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Neue Wege künstlerischer Erziehung
Eine AusstKlkmg von Zugendarbeiken in München. Von E. Keßler
Welches Gebiet an Schönheit durch die kindliche
Zeichnung erschlossen werden kann, dies ist für das
geistige Europa eine Entdeckung der lehten Zahr-
zehnke. Die Erkenntnis, dah jeder Entwicklungsstufe
die ihr eignende ,Gültigkeit und damit Form der
Dollendung innewohne, war es, die zu solcher Ent-
deckung führte und darüber hinaus jene Förderung
und Leitung des kindlichen Tuns möglich machte, die
dem Wesen sinnvollen Ilnterrichkes entsprichk. Der
Münchner Bund hat eine Schaustellung von 3ugend-
arbeiten veranstalket, die die Erziehungsbewegung der
neuen Zeit darstellt.
Pestalozzi, so wird in den einlettenden Worten
des Kataloges der Ausstellung angeführk, hat das
Gebiet der Form neben den Erkennknisgebieken des
Workes und der Zahl das älteske und stnnfälligske
genannt. Das Ziel der künstlerischen Erziehung von
heuke ist es, aus den schöpferischen Kräften, die im
werdenden Menschen zur Entfaltung drängen, den
Willen zur Form heranzubilden, damit aus solcher ge-
festigten und vertiefken Erfassung des Wesens der
Gestalt dem Leben des Volkes neuer Antrieb und
Inhalt werde.
Die Wege zur Derwirklichung jenes Wollens sind,
bei aller Berschiedenheik einzelner Richlungen, we-
sensverwandk. Dem ungeübten Bersuch des Kindes
wird nicht Borlage oder Tadel hemmend enkgegen-
gestellt, sondern durch die Freude am eigenen Schaf-
fen seine Ausdrucksfähigkeik geweckk uyd aus seiner
Arbeikslust, aus seinem geklärten Schauen das Ge-
sühl der Berantwortung dem eigenen Tun gegenüber
enkwickelt. Die Nebeneinanderreihung einzelner
Schulen im gedrängten Raum dieser Ausfkellung, läßt
die Richtlinien erkennen, von denen ausgehend ge-
arbeitek tvird.
Zunächst ein Raum, der Schülerarbeiten der „Stis-
tung Deutscher Landerziehungsheime", Dr. Lieh, ent-
hält. Wtr stehen hier vor dem nun schon fast gewohn-
ten Bild jugendlicher Arbeiten, die in enger Berbun-
denheit mit der Natur gefertigt, dieser ihre Gesehe
abzulauschen bestrebt sind. Bewegungsstudien sind da,
Studien der Gestalt von Mensch und Tier, Stim-
mungsbilder belebter Landschaft, Skimmungen, die
durch Anregungen der eigenen Phanlasie entsprun-
gen und im Bilde sestgehalten sind. Der bunte
Reichtum dieser Enkwürfe und schülerhaften Skiz-
zenarbeik ist durch die unmerklich führende Aand
des Lehrers zu einem Ganzen gefügt. Es ist Freilust-
arbeit, aus dem Puls realen Lebens geboren, spontan
und unbeschwert in der Linienführung und Ausdruck-
gebung. Was heute selbstverständliche Boraussehung
'jedes künstlerischen Unterrichkes geworden ist, die un-
mitkelbare Beziehung zu den Dingen, die Wahrhaftig-
keik und Sicherheit des Ausdrucks der zeichnerischen
Darstellung zu gewinnen, das ist als mühsame Errun-
genschaft pädagogischer Einsicht zu werten, die wohl
vor allem der Erziehungsarbeit der deutschen Land-
erziehungsheime zu danken ist. Der folgende Raum
des Gustaf-Britsch-Znstikuts für Kunstwissenschaft der
Stnrnberaer Schule, die der Leikung Egon Korn-
manns untersteht, beeindruckk durch die Klarheit der
Gestaltgebung, durch die zielbewutzte Weilerführung
aus ungefügten Anfängen eigenbetonker Erpresston
ru sachlich durckidackken Zeicknunaen. Einer der pro-
grammalischen Sähedieses AWstellungsraumes lau-
tek: „Der bildend-künstlerische Gestalkungsprozetz ent-
falket sich — sowohl in der Menschheitshistorie, als
auch im elnzelnen Menschen — stufenweise von un-
differenzierken, primikiven zu disferenzlerken Stufen.
Ilnd jede Stufe hat als zeiklose Gestalkungsstufe lhre
zeitlose Gülkigkeit." Die lieoevolle Erfafsung seder
einzelnen Periode der Enkwicklung des Schülers, dte
dtefen Worten zugrunde liegt, machk dle eingehende
Behandlung der Arbeiken möglich und führk zur end-
lichen Entwicklirng jener primitiven Stilgebung, die
wir hier vor uns sehen. Dle Unbeschwertheik von
lastenden Borbildern der Kunst und des Lebens, ver-
bunden mik dem Hinweis zu selbständigLm Tun, stärkt
die Eigenheit der Gestaltgebung llnd gibt den Zeich-
nungen jene Frische und Reinheik, die fast erschüt-
terk. Die strenge Scheidung, die in der Formgebung
jener beiden Schulen zum Ausdruck kommt, macht
zunächst betroffen, scheint es doch, als sei der heran-
reifende Mensch in der Hand des Lehrers allzu ge-
füglger Stoff, der willenlos deffen bildendem Druck
gehorche. Doch veranschaulichk die Taksache der deuk-
licheN Prägung der einzelnen Schulen die grotze Der-
antworkung, die in dte Hand des stugendbildners ge-
legt ist. 3n den weikeren Ausstellungsräumen zeigt
das inkernakionale Archiv für llugendzeichnungen in
Mannheim eine Reihe von Kinderzeichnungen, die,
unabhSngkg von Schule oder Landschast, worin sie
entstanden, dle Ausdrucksfähigkeik des Kindes ilw-
striert. Nicht um dke Frage erzieherischer Leikung
handelk es sich in dieser Auswahl von llugendarbeiten
aus den verschiedensten LSndern, sondern um die
Darstellung des Genialischen im Kinde. Dle bildne-
rische Gestaltung einzelner Aufgaben und dereU zeich-
nerische Lösung, in Serien gezeigk, welst von tndlvi-
dualistischen Begabungsstagen weg, auf das tiefere
Problem htn, deffen wir durch die Offenbarungen des
unbewutzt Schöpferischen tm Kinde gewahr werden.
Zm Gegensatz hiezu zeigk die Münchner Bersuchs-
schule Entwicklungsgänge einzelner Schüler Zusam-
menhängend mit deren Schriftproben und Bildnis-
wiedergaben. Diese einheitlich geschloffenen Enkwick-
lungsreihen laffen den Äruch erkennen, der zwischen
den Darstellungen der Kinderjahre und jenen des
späteren Alters bestehk: die unmittelbare Krafi des
Ausdrucks verebbt mit den llahren der 2feife. Ob es
der Erziehungsarbeik gelingen wird, jenes Enkschwin-
dende festzuhalken, mutz die Probe erweisen. Endltch
ein Raum, der Arbeiten aus den höheren Schulen
Württembergs, von Profeffor Gustav Kolb zusam-
mengestellk und aus der Werkhaus-Merkschule Al-
brechk L. Merz, Skuttgart, enkhSlt. Es ist dies ein
Saal von besonderer Schönheik, deren man freilich
erst in vollem Matze gewahr Mrd, wenn man eine
Weile hier verweilend, die Wirkung der einzelnen
Blätter in ihrer Krafk und Lebendigkeik halb un-
bewutzt in sich aufnehmen kann. Faft wahllos zu-
Neue Wege künstlerischer Erziehung
Eine AusstKlkmg von Zugendarbeiken in München. Von E. Keßler
Welches Gebiet an Schönheit durch die kindliche
Zeichnung erschlossen werden kann, dies ist für das
geistige Europa eine Entdeckung der lehten Zahr-
zehnke. Die Erkenntnis, dah jeder Entwicklungsstufe
die ihr eignende ,Gültigkeit und damit Form der
Dollendung innewohne, war es, die zu solcher Ent-
deckung führte und darüber hinaus jene Förderung
und Leitung des kindlichen Tuns möglich machte, die
dem Wesen sinnvollen Ilnterrichkes entsprichk. Der
Münchner Bund hat eine Schaustellung von 3ugend-
arbeiten veranstalket, die die Erziehungsbewegung der
neuen Zeit darstellt.
Pestalozzi, so wird in den einlettenden Worten
des Kataloges der Ausstellung angeführk, hat das
Gebiet der Form neben den Erkennknisgebieken des
Workes und der Zahl das älteske und stnnfälligske
genannt. Das Ziel der künstlerischen Erziehung von
heuke ist es, aus den schöpferischen Kräften, die im
werdenden Menschen zur Entfaltung drängen, den
Willen zur Form heranzubilden, damit aus solcher ge-
festigten und vertiefken Erfassung des Wesens der
Gestalt dem Leben des Volkes neuer Antrieb und
Inhalt werde.
Die Wege zur Derwirklichung jenes Wollens sind,
bei aller Berschiedenheik einzelner Richlungen, we-
sensverwandk. Dem ungeübten Bersuch des Kindes
wird nicht Borlage oder Tadel hemmend enkgegen-
gestellt, sondern durch die Freude am eigenen Schaf-
fen seine Ausdrucksfähigkeik geweckk uyd aus seiner
Arbeikslust, aus seinem geklärten Schauen das Ge-
sühl der Berantwortung dem eigenen Tun gegenüber
enkwickelt. Die Nebeneinanderreihung einzelner
Schulen im gedrängten Raum dieser Ausfkellung, läßt
die Richtlinien erkennen, von denen ausgehend ge-
arbeitek tvird.
Zunächst ein Raum, der Schülerarbeiten der „Stis-
tung Deutscher Landerziehungsheime", Dr. Lieh, ent-
hält. Wtr stehen hier vor dem nun schon fast gewohn-
ten Bild jugendlicher Arbeiten, die in enger Berbun-
denheit mit der Natur gefertigt, dieser ihre Gesehe
abzulauschen bestrebt sind. Bewegungsstudien sind da,
Studien der Gestalt von Mensch und Tier, Stim-
mungsbilder belebter Landschaft, Skimmungen, die
durch Anregungen der eigenen Phanlasie entsprun-
gen und im Bilde sestgehalten sind. Der bunte
Reichtum dieser Enkwürfe und schülerhaften Skiz-
zenarbeik ist durch die unmerklich führende Aand
des Lehrers zu einem Ganzen gefügt. Es ist Freilust-
arbeit, aus dem Puls realen Lebens geboren, spontan
und unbeschwert in der Linienführung und Ausdruck-
gebung. Was heute selbstverständliche Boraussehung
'jedes künstlerischen Unterrichkes geworden ist, die un-
mitkelbare Beziehung zu den Dingen, die Wahrhaftig-
keik und Sicherheit des Ausdrucks der zeichnerischen
Darstellung zu gewinnen, das ist als mühsame Errun-
genschaft pädagogischer Einsicht zu werten, die wohl
vor allem der Erziehungsarbeit der deutschen Land-
erziehungsheime zu danken ist. Der folgende Raum
des Gustaf-Britsch-Znstikuts für Kunstwissenschaft der
Stnrnberaer Schule, die der Leikung Egon Korn-
manns untersteht, beeindruckk durch die Klarheit der
Gestaltgebung, durch die zielbewutzte Weilerführung
aus ungefügten Anfängen eigenbetonker Erpresston
ru sachlich durckidackken Zeicknunaen. Einer der pro-
grammalischen Sähedieses AWstellungsraumes lau-
tek: „Der bildend-künstlerische Gestalkungsprozetz ent-
falket sich — sowohl in der Menschheitshistorie, als
auch im elnzelnen Menschen — stufenweise von un-
differenzierken, primikiven zu disferenzlerken Stufen.
Ilnd jede Stufe hat als zeiklose Gestalkungsstufe lhre
zeitlose Gülkigkeit." Die lieoevolle Erfafsung seder
einzelnen Periode der Enkwicklung des Schülers, dte
dtefen Worten zugrunde liegt, machk dle eingehende
Behandlung der Arbeiken möglich und führk zur end-
lichen Entwicklirng jener primitiven Stilgebung, die
wir hier vor uns sehen. Dle Unbeschwertheik von
lastenden Borbildern der Kunst und des Lebens, ver-
bunden mik dem Hinweis zu selbständigLm Tun, stärkt
die Eigenheit der Gestaltgebung llnd gibt den Zeich-
nungen jene Frische und Reinheik, die fast erschüt-
terk. Die strenge Scheidung, die in der Formgebung
jener beiden Schulen zum Ausdruck kommt, macht
zunächst betroffen, scheint es doch, als sei der heran-
reifende Mensch in der Hand des Lehrers allzu ge-
füglger Stoff, der willenlos deffen bildendem Druck
gehorche. Doch veranschaulichk die Taksache der deuk-
licheN Prägung der einzelnen Schulen die grotze Der-
antworkung, die in dte Hand des stugendbildners ge-
legt ist. 3n den weikeren Ausstellungsräumen zeigt
das inkernakionale Archiv für llugendzeichnungen in
Mannheim eine Reihe von Kinderzeichnungen, die,
unabhSngkg von Schule oder Landschast, worin sie
entstanden, dle Ausdrucksfähigkeik des Kindes ilw-
striert. Nicht um dke Frage erzieherischer Leikung
handelk es sich in dieser Auswahl von llugendarbeiten
aus den verschiedensten LSndern, sondern um die
Darstellung des Genialischen im Kinde. Dle bildne-
rische Gestaltung einzelner Aufgaben und dereU zeich-
nerische Lösung, in Serien gezeigk, welst von tndlvi-
dualistischen Begabungsstagen weg, auf das tiefere
Problem htn, deffen wir durch die Offenbarungen des
unbewutzt Schöpferischen tm Kinde gewahr werden.
Zm Gegensatz hiezu zeigk die Münchner Bersuchs-
schule Entwicklungsgänge einzelner Schüler Zusam-
menhängend mit deren Schriftproben und Bildnis-
wiedergaben. Diese einheitlich geschloffenen Enkwick-
lungsreihen laffen den Äruch erkennen, der zwischen
den Darstellungen der Kinderjahre und jenen des
späteren Alters bestehk: die unmittelbare Krafi des
Ausdrucks verebbt mit den llahren der 2feife. Ob es
der Erziehungsarbeik gelingen wird, jenes Enkschwin-
dende festzuhalken, mutz die Probe erweisen. Endltch
ein Raum, der Arbeiten aus den höheren Schulen
Württembergs, von Profeffor Gustav Kolb zusam-
mengestellk und aus der Werkhaus-Merkschule Al-
brechk L. Merz, Skuttgart, enkhSlt. Es ist dies ein
Saal von besonderer Schönheik, deren man freilich
erst in vollem Matze gewahr Mrd, wenn man eine
Weile hier verweilend, die Wirkung der einzelnen
Blätter in ihrer Krafk und Lebendigkeik halb un-
bewutzt in sich aufnehmen kann. Faft wahllos zu-