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Bund Deutscher Kunsterzieher [Hrsg.]
Kunst und Jugend — N.F. 9.1929

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Hetf 10 (Oktober 1929)
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Klauss, Otto: Was bedeutet uns Lessings Laokoon heute noch?, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.27999#0271

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Was Ledeutet uns Lessings Laokoon heute noch?

Von Otto Klauß - Heidenheim. /

Mai: schäht allgemein die kiefere und lebendige
Mirluing eines Schriftstellers ab an der unmittel-
baren Teilnahme, die seine Werke auch nach Zahren
und llahrzehnten noch bei seinen Lesern erwecken
und an dem freudigen Widerhall, den seine Worte
und (Ledanken in den Anschauungen auch jüngerer
Generakionen noch finden. Lessings Laokoon geniejzt
diese verftehende Liebe in unserer Zeit weniger als
die meisten seiner anderen Werke, und die zwingende
Kraft seiner Gedanken wirkt sich heute kaum aus in
jenen Kretten, die sie in ihrer täglichen Arbeit in den
Mittelpunkt ihres Denkens zu stellen gewohnt sind.
Die Flut der Laokoonkommentare und -kritiken
ist Im Laufe der llahre abgeebbt, ungelesen ftehk das
Werk heute bei den Klassikern in den Äibliokheken,
nur einmal im llahr feiert es in den Oberklassen der
höheren Schulen eine stille Auferskehung. Dieses un-
erbiktliche Wegschreiten der Zeit uber Lessings wich-
tigste kunstkritische Schrift könnke uns berechtigen,
den Laokoon zu den koten Werken der Meltliteratur
zu rechnen. Ilnd doch schwingt das Geheimnis dieses
Buches mit der Fülle seiner Anregungen sragend
und ankwortend mikten ourch das künstlerische und
ästhekttche Erleben unserer Zeit. Wie wenige von
uns aynen, dasz der Laokoon ungenannt, aber ent-
scheidend die ganze Aesthekik des vorigen llahrhun-
derts beeinflußte, auf der bis zuletzt die Gesamtheit
unserer kttnstierischen Kulkur sich aufbaukel Wie
wenige vermögen die unheilvolle Berwirrung in allen
kiinstlerischen Fragen, in der wir uns heute noch be-
finden, in einen ursächlichen Zusammenhang zu brin-
gen mit den Forderungen Lessingsl Und wie wenig
ermessen wir doch die Tragweite einer unterricht-
lichen Behandliing dieses Merkes in unseren höheren
Schulen, bei der jedes Zahr einer neuen Iugend die
Grundbegriffe der Aesthetik und des kllnstlerischen
Denkens und Fühlens an den Grundgesetzen des
Laokoon beigebracht werden! Diese Grundbegriffe
sind aber keineswegs so sicher und weitläufig ge-
gründek, dasz sie auch den künstlerischen Anschau-
ungen unssrer Zeit zur gemeinsaineli und tragenden
Ilnterlage dienen köiinten. Daruin entspringt die
Absichk des vorliegenden Aufsatzes, den Laokoon
einer besonderen Betrachtung zu unterziehen, weit
mehr einem unmittelbaren Znteresse, sich mik den
kunstphilosophischen Gedanken Lessings neu aus-
einanderzusetzen, als der naheliegend.en Anregung,
die das allgemein gefeierte Lessipgjahr uns gibk, einer
Anstandäpflicht zu genügen und Lessings Tätigkeit als
Kunstkrikiker in würdigende Erinnerung zu rufc-n.

Man musz die Beurkeilungen lesen, die kurz ncich
Erfcheinen des Werkes im 3ahre 1762 in den lite-
rarischen Blättern des damaligen Deutschland ab-
gedruckk wurden, um die begeisternde Anerkennung
zu ermessen, die die GMldeten jener Zeit dem Buche
enkgegenbrachken, und uni gleichzeikig zu ersahren,
dasz diese Begeisterung vor allem der Seike des
Laokoon galt, die seinen eigentlichen Wert auch heute
noch ausiiiacht: seiner vollendeken literarischen Forni.

Goekhes lebhafte Zustimmung aus Dichkung und
Mahrheit, den dieses Werk „aus den Regionen eines
kümmerlichen Anschauens in die freien Gefilde des

Gedankens hinrijz", ist bekannt. Der junge Herder
schreibt in seinem ersten kritischen Wäldchen: „Wo
Lessing in seinem Laokoon am vorkrefflichsten schreibt,
spricbt der Kritikus: der Kunsirichter des poekischen
Geschmacks: der Dichter." Der Leipziger Professor
Garve rühmt die Genauigkeit und Kraft des Aus-
drucks, eine Vollständigkeit, eine gewisse Ründung
aller Teile jedes Begrifss: eine immer genau bezeich-
nete Folge von einem Begriff zu dem anderu; eine
gewisse lebendige anschauende Äede, die die ganze
stdee mit allen ihren Schattierungen durchscheinen
lätzk, und findet, datz „nicht der Nutzen der Sachen,
selbst nicht die Richtigkeit der Begrifse, sondern die
Kraft der Seele, mit oer sie hervorgebracht werden"
sür den Schriststeller einnehmen. Aber diese bewun-
derte Form der Darstellung, dieses Mufter einer
philosophischen Abhandlung fand schon im daraus-
solgenden tzahrhunderk, das der langen Negenkschaft
des Berstandes müde sich wieder dem Gesühls-
mäjzigen zuneigte, hestige Gegner. Man wirft Les-
sing Spihfindigkeik, scholastische Klügelei und Mangel
an künstlerischer Phantasie vor, und ein Eckermann
beklagt sich bei Goekhe, datz man mehr die Operakion
des Denkens und Findens zu sehen, als grotze Wahr-
heiten zu hören bekomme, die uns selbst produktiv
zu machen geignet wären. Trotzdem werden wir heute
anerkennen müssen, datz die Freiheit des philoso-
phischen Gedankens, die vollendete Form
und die dichterische Krast der Sprache,
die auch uns nach fast zwei tzahrhunderten noch ent-
ücken, wohlalsdie bleibenden Werte
es Laokoon zu bezeichnen sind.

Diese zwingende Seike des Laokoon verhinderte
aber schon zu Lebzeiken Lessings nicht eine scharfe
sachliche Krikik des llnhaltes. Aber sie griff wirksam
nur einige antiquarische Unrichtigkeiten und philo-
logische Streitfragen an, die das Wesen der Abhand-
lung kaum berührken, und uns heuke kaum noch inker-
essieren. Dagegen stimmke sie beinahe einmllkig den
drei Grundfragen über die Schönheik, über den End-
zweck der Bildkuiist und über die Grenzen der
Malerei und Poesie zu. Die Aesthetiker dieser Zeit)
Baumgarken, Winkelmann, Herder, Mendelssohn
waren in diesen Fragen alle Söhne ihrer gemeinsamen
Zeik. Sie bildeten mit Lessing ihren Begriff der
Schönheit und Kunst an den antiken Kunstwerken
der späken, hellenistischen Zeit, als den einzigen, die
sie kannken. Das Gefühl der grundsählichen Ueber-
einstimmung mit den Besten seiner Zeit war in Les-
sing so stark, datz er das Kapitel über die Schönheit
— das für uns das Rückgrak der ganzen Abhandlung
bildet — lediglich als Boraussehung für das Ber-
ständniS seiner eiaentlichen Absichk betrachtete. Auf
biese besondere Absicht des Laokoon, „dem falschen
poetischen Geschmack entgegen zu reden, die
Grenzen zwoer Künste zu bestimmeii, damit die eine
der andern nicht vorgreifen, vorarbeiten, zu »ahe
treten wolle", weisk schon Herder ausdrücklich hin.
Lessings ganzes Denken galt demnach dem Bestreben,
den Borzug zu bestimmen, den die Poesie vor den
andern Künsten voraus habe. Der Haupkkitel des
Werkes führt uns also irre, wenn wir erwarten,
Fragen der Kunst vom Skandpunkk des Kunstkrikikers
 
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