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Bund Deutscher Kunsterzieher [Hrsg.]
Kunst und Jugend — N.F. 9.1929

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Heft 4 (April 1929)
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Müller, F.: Bildhaftes Gestalten und Geschlechtsreife
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https://doi.org/10.11588/diglit.27999#0084

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Kunst un

Deutsche Blätter für Zeichen-Kunst- und Werkunterricht

Zeltschrift desReichsverbandes akad.geb.Zeichenlehrer und Zeichenlehrerinnen

^ . .-

Verantwortlich für dte Schriftleitung: Profeffor Gustav Kolb, Stuttgart
Druck und Derlag: Eugen tzardt G. m. b. tz. Stuttgart, Langestrahe 18

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wird eine Derantwortlichkeit nur dann übernommen, wenn ste erbeten worden stnd

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Bildhaftes Gestalten uüd Geschlechtsreife. Von F. Müller- — Zeichenunterricht und Osterzensur. Von Max
Raschke, Löbau (Sa.) — Tagespreffe und Kunsterziehung. Von Benno Petersen, Lübeck- — Neue Wege künst-
lerischer Erziehung. Von E. Kestler. — Schmuckfreude und Schmuckgestaltung. Künstlerisches Gestalten des
Kindes. Von Friedrich Thetter, Profeffor i. R. — Zu den Abbildungen. — Umschau. — Buchbesprechungen.

Geschäftliches. — Beilagenhinweis. — Inserate. , - ^ » r .

9. Iahrgang

April 1929

tzeft 4

Bildhaftes Gestalten und Geschlechtsreife

Bon F. Müller

Datz der Kunstunterrichk im bildhasien Gestalken
troh aller enigegenstehenden Bersicherungen noch
immer unterbewerket wird, kann uns kaum enkgehen.
Unker den mancherlei Ursachen, die daran schuld sind,
darf ein Ilmstand nicht übersehen werden, der erst
in neuerer Zeik hervorgekreken ist, seit man sich mit
der Psychologie des Iugendalters eingehend zu be-
schäftigen suchk. Es ist die von me.hreren Gelehrken
aufgestellke und in Wort und Schrift verbreitete Be-
hauptung, dah die Gestaltungskraft des Kindes mik
seinem Eintreten in die Geschlechtsreife sich mindere
und zuletzt ganz aufhöre. Die Mucht wiffenschaftllcher
Autorität trägk dazu bei, dieser Meinung bei solchen
Menschen Geltung zu verschaffen, die gewohnk sind,
eigenes Denken durch Autoritätsglauben zu ersetzen.
Man vergifst, daß es gerade das Verhängnis bedeu-
tender Gelehrten war, alte örrtümer durch ihre
Autorität zu stühen. So konnke Virchow noch mit
grotzem Eigensinn an seiner Meinung festhalten, der
sogenannke Neanterkalschädel zeige nicht eine be-
sondere diluviale Menschenrasse, sondern es handle
sich hier um den „rein pathologischen Fall eines zu
Lebzeiten schwer erkrankken slndividuums". And der
physikalische Teil von Goekhes Farbenlehre
steckt voller örrtümer, die der Meister aber sein lan-
ges Leben hindurch mit grotzem Eifer verteidigk hak.
Das müssen wir leider sagen, so sehr wir Goekhes
Farbenlehre in ihren übrigen Teilen hochschätzen. Der
Weg zur Wahrheik gehk durch örrkum.

Es ist in diesen Blättern auf den örrtum von dem
Aufhören der Gestaltungskrafk während der Neifezeit
schon wiederholk hingewiesen worden, und man hat
gegen den Schein der Berechtigung jener irrkümlichen

Lehre den Gegenbcweis der Tak gestellt. Das lst
sicherlich der beste Weg, sie zu bckämpfen, aber auch
schon die reine lieberlegung mütz uns ihren Mider-
sinn zeigen. Spranger sagk in seinem Buch „Psycho-
logie des Zugendalkers": „Wie gern hak das Kind in
Sand und Ton geformk, wie leidenschastlich hak es
mit scinen Holz- und Skeinklöhen gebaut! Aber dn-
ser Trieb geht. nicht ekwa in jugendliche Bkldhauerei
und architektonische Enswürfe über, sondern er stkrbk
in der Negel ab." — Dieses Ilrteil von dem Ab-
sterben der Gestalkungskraft kriffk nicht das Richkige.
Wenn der Trieb zum bildhafken Gestalten - gleich-
gültig, ob er sich im Formen. Bauen, Zeichnen oder
sonstwie auswirkk — überhaüpt ein Trieb ist, also
eine dem Menschen ins Leben mikgegebene Natur-
kraft, so kann er nicht absterben) sondern er Kann
nur durch übermächkige Einslüsse zurückgedrängk und
verbauk werden. So lange Gesichkssinn, Formgefühl
und Borstellungsleben (die schon rm SeelenlebeN der
Tiere festgestellt werden) die Haupkelemenke mensch-
lichen Seelenlebens sind — und das find'sie bis an
das Lebensende — so lange kann auch der Trieb,
innerlich Geschaukes und Empfundenes bildhasi *)
auszudrücken, nichk zugrunde gehens denn er ist ja
die notwendige Nesonanz des Geschauten und Emp-
fundenen, er ist, um alles in einem zu sagen, eine
notwendige Erscheinung der Seele selbst. Alles Seeli-
sche kann sich nur durch mokorische Aeußerungen
offenbaren. Töte die Seele, und du tökest den Trieb

* Das Wort „bildhast" wird hier immer im weitesten Sinne
pebraucht, nämlich als Merkmal einer Krast, die darauf auSgeht,
Geschautes und Empfundencs „bildend", d. h. in einem Material
stchtbar gestaltend auszudrücken.
 
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