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Bund Deutscher Kunsterzieher [Hrsg.]
Kunst und Jugend — N.F. 9.1929

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Heft 3 (März 1929)
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Keller, Hans: Über den Zusammenhang zwischen Musik und bildender Kunst, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.27999#0067

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andern hinein. Daher nirgends mehr beigeordneke,
gleichwertige Formen, dafür alles unter die Haupt-
gruppe untergeordnet. — Die Farbe glimmk und
schwimmt sozusagen als ein Bündel, als Akkord, in
leuchtet auch nur an hervorragender Stelle auf,
dem Gesamtmeer des Hell-Dunkels, das in seinen
an- und abschwellenden Tonskufen atmend gleichsam
den „Puls" des Ganzen ausmacht. —

Dieselben Erscheinungen, die wir diesesmal an der
Malerei darlegten, finden sich wiederum auch in der
Musik. Man kann allgemein sagen: Die Wandlung
der bildenden Kunst nach dem ausgesprochenen Dy-
namischen hin, nähert diese von vornherein mebr der
Musik, deren Lebenselement ja in der reinen Be-
wegung liegk. Daraus ist es verständlich, dast z. B.
die vom „Lichk durchhujchten" Bilder Rembrandts
oder die mit „fliegendem Atem" gemalken Bilder
Corinths z. B. schon im naiven Beschauer musik-
Shnliche Gefühle erwecken. —

Auster dieser grundsählichen Näherung der beiden
Künske lassen sich wiederum noch etngeyendere Be-
ziehungen finden: Als entsprechende Wandlung in
der Musik sucht der Formwille vom polyphonen
Prinzip weg und beginnt, statt der selbständigen Füh-
rung mehrerer Stimmen, einer den Vorrang zu
geben.

Diese übernimmt als „Melodie" die Führung, wäh-
rend die übrigen Skimmen zusammengezogen werden
in harmonische Akkordfolgen, die die Rolle der „Be-
gleikung" übernehmen. Manchmal sind sie nur pas-
sende Folie oder ergänzendes Beiwerk. Damit hat
die Gesamtheit das Uebergewicht über den Einzelteil
bekommen, dessen Eigenbedeutung sinkt, ganz wie
oben in der bildenden Kunst festgestellt wurde. 3ehk
erfindet man weiter hin das „Crescendo" und „De-
crescendo". Zn den alten polyphonen Tonstücken
(Bach) finden wir überhaupt keine Bezeichnung einer
Skeigerung. (Die „Phrasierung" der heukigen Noken
dieser Werke ist alles spätere Zutak.) Die Alten
sahen Steigerung und Akzentuierung (Bortrags-
zeichen überhaupk) als eine subjektive Angelegenheit,
— was sie auch katsächlich ist — die sie dem aus-
übenden Musiker Lberließen. — Die spätere Musik
dagegen, die, wie auch die spätere bildende Kunst,
in ihrer ganzen Haltung immer mehr subjektiven
Charakter trägt, schenkt öer dynamischen Bortrags-
bezeichnung (pianissimo, piano, forte, sforzato u. dgl.)
eine eingehende Beachtung. Dieser dynamische
Atem ist ja, den wogenden Tonstusen des Hell-
Dunkels entsprechnd, der Lebensnerv diejer Musik.
Der Uebergang zu dieser neuen Gestalkungsark voll-
zieht sich in Mozart zum Teil, vor allem aber in
Beethoven. Zn seiner Frühzeit noch klassisch,
vricht in seiner miktleren Periode sein romantisches
oder barockes Lebensgefühl durch. Die klare, ge-
schlossene Form wird gesprengk von dem Druck eines
elementaren Bewegungsdrangs. (Man
denkt an Michelangelo in der bildenden Kunst.) Der
geschlossenen, vollendeten Tonwelt des alten
Organismus steht gegenüber das offene, unend-
liche Klang meer des neuen. Ueber üem Grenzen-
losen liegt die Nacht, das Chaos. Wer spürt sie nicht
über den Werken Nembrandks und Beethovens
dämmern?

Naiuralismus in Musik «nd bildender Knnst.

Beiden ist eine unerhörte cinnendynamik eigen, die
jedoch bei diesen grosten Meistern ganz gebändigt ist.
Zhre Werke sind noch Organismen zu nennen. Zn
ihnen herrscht noch die Notwendigkeit. Das ist bei
späteren Musikern nicht mehr so. Unker den Roman-
tikern (Schuhert, Schumann usw.) lockert und er-
weicht sich die Form immermehr. Die Borliebe dieser
Meister gehk jehk mehr auf das Einzelne aus z. B.
auf die Erfindung berückender Melodienr Melodien,
die schliestlich nur noch musikaltsche Umsehungen von
Nakureindrücken waren. (Man suchke z. B. das
Singen der Bögel, das Plätschern des Baches usw.
nachzuahmen). Damit sind wir bei der sogenannten
„Programm-Musik" angelangt, bei der man von
künstlichem Organismus nicht mehr sprechen kannr
sie entspricht ganz den Erscheinungen des Jmpres-
sionismus und des Naturalismus in der bildenden
Kunst. Der Ankrieb zur Gestalkung geht hier mehr
von öer äuheren Natur aus. Die Wiedergabe von
Einzelerlebnissen schwebt vor, worunker das Kunst-
ganze meist notleidet. Die Musik gelangt zu einer
blohen Aneinanderreihung von Melodlen, Mokiven
usw. Es enkstehk das „Potpourr i". — Strenger
(polyphoner) Organismus auf der einen Seite, das
Potpourri auf der anderen, das sind die zwei gegen-
sätzlichen Pole, zwischen denen die Entwicklung der
Musik sich bewegke. cist es nicht dasselbe in der hil-
denden Kunst, wenn wir z. B. die feindurchdachken,
durchfühlten Merke der Alten, in denen keiy Zuviel
und kein Zuwenig da ist, vergleichen mit dem. zu-
fälligen Naturausschnitt irgend eines nakuralistischen
Kunstwerks, den man beliebig erweitern oöer ver-
engern könnte?

Ich habe versuchk, in grohen Zügen die gleich-
gerichteke Linie her Entwicklung von bildender Kunst
und Musik vom Mikkelalker an zu verfolgen bis ins
zwanzigste Zahrhundert hinein. Es fehlen allerdings
manche Zwischenglieder. Aber meine Ausführungen
hier sollten sich nur auf die „grohe Linie" erstrecken,
die gemeinsam für beide Gebieke gilt. Bon einer
Weikerführung hieser „Linie" tn hie modernsten
Kunstbestrebungen hinein, will ich absehen, obwohl
auch da zahlreiche Zusammenhänge sich aufkun. Der
Abstand von der eigenen Zeit ist doch ein zu ge-
ringer. —

Etwas anderes noch: Es könnte den einen oder
anderen vielleichk befremden, dah der Bergleich
zwischen Musik und biidender Kunst an Werken zeit-
lich ganz auseinandergehender Epochen durchgeführk
wurde, anstatt immer die Aeuherungen einer und
derselhen Zeik auf den beiden Gebieten gegenein-
ander zu stellen! — Darauf möchte ich antworten:
Das Tempo der musikalischen Stilentwicklung
ist ein ganz und gar anderes, als das in den bilden-
den Künsten. So kommt es, daß wesenhafk mit-
einander übereinstimmende Kunstwerke auS den bei-
den Gebieten eigenklich nie in einer und derselben
Zeit gefunden werden, sondern in einer starken zelt-
lichen Berschiehung, zuweilen um mehrere
ciahrhunderte. Denn die Künste erleben nicht zu
gleichen Zeiken ihr „Blühen". —

Damit möchte ich meine Ausführungen über den
Zusammenhang zwischen Musik und bildender Kunst
abschliehen. —

Ueber den Sinn und die Berechkigung der Frage-
stellung noch ein paar Worke: In uns heutigen Men-
 
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