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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 10.1896-1897

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Heft 4
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.11731#0071

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stein-Orch efter abgehalten werden. Daß für die letzt-
genannten künftlerisch bedentsamen Orchesteranfführungen,
die dem musikalischen Fortschritt dienen und in den oier
Jahren ihres Bestehens für das Dresdener Musikleben
epochemachende und reformatorische Bedeutung gehabt
haben, auch diesen Winter sich keine höhere Teilnahme
zeigt, ist tief betrübend. Aber von Anfang an hat die
Hofkapelle und sozusagen ihr ganzes Milieu in weitester
Ausstrahlung gegen Nicoda eine konkurrenzfeindliche Halt-
ung eingenommen. Diesen Winter tritt man noch mit
naiv offeneren Maßregeln hervor, um Nicoda gleichsam
auszuhungern. Man hätte früher denken können, Ver-
schiedenheiten der künstlerischen Überzeugung bethätigten
sich bei dieser Gegnerschaft, aber dem ist nicht so. Jn
dieser Beziehung hat der „Junge" gegen die „Alten"
vielmehr gesiegt, denn auch das Hofkapell-Winterprogramm
schaut diesmal aus völlig Nicodamäßigen modernen Augen:
Liszts „Dante", von Richard Strauß und Humperdinck
die neuesten Werke, der jungrussischen Schule usw.

Noch ein neuer Musiksaal, allerdings sür Aufführ-
ungen größten Formates swie das einmal geplante, allem
Anschein nach jedoch fallen gelassene Dresdener Musikfest
für tSZr), ist mit einer gnt gelungenen ersten Dresdener
Aufführung der Casar Franckischen „Seligpreisungen"
durch den philharmonischen Chor des reklamekundigen
Hösel unlängst eröffnet worden. Das genannte, wert-
volle Tonwerk wurde unter Mitwirkung ausgezeichneter
Solisten sehr würdig ausgeführt, hatte jedoch unter den
auch hier ungünstigen akustischen Verhältnissen schlimm zu
leiden.

Jn der Hofoper wehte letzter Zeit ein erstaunlich
srischer Wind. Man erlebte mehrere schnell auseinander
solgende Erstaufführungen, wenn auch nebenher die Spiel-
pläne ihr monoton alltägliches Aussehen behalten baben.
So ist diesen Herbst in der Dresdener Hosoper zum ersten
Male gegeben worden Goldmarks „Heimchen am Herd",
worin dem lieben Dickensschen „Heimchen" gewissermaßen
alle sechs Beine und die Flügel seiner Elfennatur unter
Musikbegleitung ausgerissen werden. Wirklich, das Li-
bretto ist eine der schlimmsten Opernverballhornungen
bekannter volkstümlicher Dichterwerke, und die Musik ent-
hält von seelischer Kunst nicht viel. Ferner gab man
Schuberts Jugendoper „Der vierjährige Posten" in
Hirschselds Bearbeitung; man holte das Werkchen aus
dem Dunkeln herauf, sah, bei Licht, daß es einst mit Recht
hinuntergesunken war und ließ es also schnell wieder
hinabsinken. Schließlich kam eine Oper des norwegischen
Komponisten Emil Hartmann daran, „Runenzauber",
die, da der phlegmatische Herr Hagen den Stab über
sie schwang, nur ein Begräbnis zweiter Klasse er-
zielte. Aus die genannten Werke, soweit dies nicht schon
bei anderer Gelegenheit geschehen ist, noch einzugehen,
verlohnt sich nicht. Nachhaltigeren Ersolg als mit den
neuen Opern-Eintagsfliegen wurde mit dem neueinstu-
dierten Ballet „Coppelia" von Delibes erzielt, das sich
durch seine pikant geschmeidige Musik aus dem Spielplane
behauptet. Rarl Söhle.

Mldende Ikünste.

* Ikrunstliteratur.

Aarl Böttichers Tektouik der chelleueu als
ästhetische uud kuustgeschi ch tlich e Theorie, eine

Kritik von Dr. Richard Streiter, Architekt. Dritter
Band der Beiträge zur Ästhetik, herausgegeben von
Theodor Lipps und Richard Maria Werner. (Hamburg,
Leopold Voß, Mk. z.)

Wer wie der Schreiber dieser Zeilen Mitte der siebziger
Jahre in die Kunstgeschichte eingeführt ward, der weiß
auch, daß Böttichers Tektonik der Hellenen damals schlecht-
weg maßgebend sür die ästhetische Betrachtung der antiken
Baukunst war, daß abweichende Ansichten wie die Rebers
— der griechische Steintempel sei aus dem Holzbau ab-
zuleiten — nur belächelt wurden, kurzum, daß Böttichers
Buch als ein Werk von unerschütterlicher Autorität galt.
Jndeß man weiß auch, daß seitdem durch die neueren
archäologischen Forschungen allmählich ein Stein nach
dem anderen von dem scheinbar so festgesügten Bau
Böttichers abbröckelte, so daß man sich schließlich fragen
mußte, was denn eigentlich davon noch übrig sein könne.
Die Antwort darauf gibt Richard Streiter in dem vor-
liegenden Buche, welches planmäßig kritisch darlegt, in-
wieweit sich die geschichtlichen Grundlagen verschoben
haben, aus denen eine ästhetische Würdigung der griechischen
Baukunst errichtet werden muß, auf welchen salschen
ästhetischen Voraussetzungen Bötticher sußt und welche
Jrrtümer er im einzelnen begangen hat. Böttichers Tek-
tonik ist bekanntlich ein ungemein schwer zu lesendes Buch;
die gezwungene, von Fremdwörtern, ost sogar von
selbst erfundenen Ausdrücken wimmelnde Sprache des
Werkes ist von jeher getadelt worden. Wenn trotzdem
der Jnhalt sich eines so hohen Ansehens erfreut hat, so
mag das wohl einesteils an der Freude an Systemen
gelegen haben, die in jener Zeit so weitverbreitet war,
anderseits daran, daß sich der Kern des Bötticherschen
Systems verstandesmäßig so klar und leicht darstellen
und pädagogisch verwerten läßt. Es läßt sich aber nicht
leugnen, daß es nach seinen historischen wie nach seinen
ästhetischen Grundlagen völlig unhaltbar geworden ist.
Die drei Voraussetzungen allgemeinster Art, auf denen
Böttichers deduktiv entwickelte tektonische Theorie ruht,
sind nach Streiters richtiger Darlegung solgende: Der

griechische Tempelbau habe sich in Plan und Durchbildung
in technischer und künstlerischer Hinsicht ohne jede Beein-
slussung durch die Kunst anderer Völker entwickelt; 2. Die
Herleitung des griechischen Steintempels oder einzelner
seiner Formen aus einem srüheren Holzbau oder einem
Mischstil (Stein und Holz oder Stein und Holz mit Ver-
kleidung durch Metall oder Terrakotten) sei als aus-
geschlossen zu betrachten; 3. bei allen Formen der uns
erhaltenen Überreste, denen das — zu ihrer begriffs-
symbolisierenden Deutung von Bötticher ihnen zuge-
schriebene — Ornamentschema sehlt, sei die bildnerische
Charakteristik als früher in Aufmalung vorhanden, oder
als in plastischer Ausführung beabsichtigt, aus irgend
einem Grunde aber unfertig geblieben zu denken. Diese
drei Voraussetzungen sind unrichtig. Die Annahme, die
altgriechische Kunst habe sich völlig abgeschlossen entwickelt,
hat sich als unhaltbar erwiesen. Selbst auf den ältesten
dorischen Tempelbau hat die ausländische Kunst er-
wiesenermaßen eingewirkt. Ja, es läßt sich — namentlich
nach den Darlegungen Dörpfelds — durch die Aus-
grabungen des letzten Jahrzehnts geradezu als erwiesen
betrachten, daß der dorische Stil sich aus dem Holzbau
entwickelt hat. Ebenso hinfällig ist die dritte Voraus-
setzung Böttichers, wie die Behauptung, welche durch sie
gestützt werden soll, unerweislich ist, nämlich daß die
 
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