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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 10.1896-1897

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Heft 9
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Flinzer, Fedor: Bewusstes Sehen
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https://doi.org/10.11588/diglit.11731#0142

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Vor langer Zeit, eS sind mehr als 25 Zahre
verflossen, brauchte ich zuerst das Wort „bewußtes
Sehen". Es hat im Zeichen-Unterrichte viel Anklang
gefuudcu. Wir sinden es seitdcm in allen besseren
Werkcu über unscr Fach, in den mcistcu behördlichcn
Berordnungeu, es ivard in Lehrer- und Direktoren-
Bersammlungen gebräuchlich und Gelchrtc haben sogar
ivissenschastliche Abhandlungeu darüber veröffentlicht.
Sie haben den Gedanken, der dem Worte zu Grunde
liegt, meist richtig erfaßt. Leider aber sehr häufig
uur iii der Theorie — sobald sie Vorschläge zur
praktischen Anwcndung machten, zeigte sich doch ein
Mangel an Sachverständuis. Von den Kunstge-
lehrten hat auffallenderweisc noch keiner unmittelbar
davon Kenntnis genommen. Die Auslassungen Ein-
zelncr, ivie Hirth und Lange, am meisten aber die
des letzteren, legen sich kräftig ins Zeug gegen den
gegenwärtigen Zeichenunterricht. Richtiger gesagt,
gegen das, was ihnen als der gegenwärtige Zeichen-
unterricht erscheint, denn ivir erkennen diesen
Zeichenunterricht nach ihrer Schilderung kaum wieder.
Jch erhebe gegen sie den Vorwurf, sich ihr Bild von
der Sache nach nicht eben ehrwürdigen Resten einer
häßlichen Vergangenheit und nach einzetncn erbärm-
lichen Lehrern gebildet zu haben ohne genügende
Kemitnis der großen Wandlungen zum Bessern, die
geradc dcr deutsche Zeichenunterricht scit Jahrzehnten
zeigt. Erklärlich aber wird das dadurch, daß unsere
Herren Gegner die Ziclc dcs inodernen Zeichen-
uuterrichts augenscheinlich gar nicht verstehen. Denn
sie wollen nichts von dem bewußten Sehen
wissen, das uns so wichtig erscheint, ja, Lange be-
hauptet ausdrücklich und wiederholt, daß der Künstler
beim Zeichnen kein Verständnis brauchc. Er
erklärt die H a n d g e s ch i ck l i ch k e i t für das Wesent-
liche und meint daher, daß diese, dic Tcchnik, als
Hauptgegenstand der Zeichenstunde gefühlsmäßig
geübt werden müsse, daß cs im übrigen hinreiche,
wenn der Schüler gleich dem Künstler das Vorbild
eine geraume Zeit wahrnehme, so daß es sich im
Gehirn, auf dern Wege durch das Zentralnervensystem,
fixierc und dann von der Hand mechanisch und
gefühlsmäßig dargestellt werde. Er gründet hierauf
seine Theorien zu ciner Umgestaltung des jetzigen
Zeichenunterrichts.

Wir werden im Verlauf unserer Erörterungen
darauf kommen, daß diese seine Meinungen sich genau
mit denen decken, aus denen die „alte gute
Z ei ch e n stu n d e" hervorging, der alte bequeme
Schlendrian, der mit seinen Mißgriffen den Mißkredit,
den schlechten Rus verschuldet hat, in welchem der
Tchulzeichenunterricht noch heutigen Tages steht, bei
cinem großen Teil der Schulmänner, der Behörden
und überhaupt des großen Publikums, d. h. des

deutschen Volkes, von seinen niedersten bis zu den
höchsten Schichten. Dieser schlechte Ruf wird von
Lauge vergrößert. Zunächst dadurch, daß cr auch dcn
modcrncn Zeichennnterricht herahsetzt und die Zkichen-
lehrer sogar verdächtigt, unsachlichc Gründe zu habeu,
ivenn sie sich bemüheu, ihr Fach wissenschaftlich zu
ersassen und zu betreiben. Nnd andernteils dadurch,
dnß Lange einer längst in Verruf gekommenen Lehr-
weise das Wort redet, die da und dort noch zähe fort-
lebt in einer'Zahl von Zeichenlehrern, welche, wie ihxe
Vorsahren, ebenso wenig'zeichnen wie 'lehren können.

Lnnges Buch „Die künstterische Erziehung der
deutschen Jugend" verführt durch so manches Wort
den Leser zu der Annahme: wer so etwas schreibt,
kann auch über den Zeichenunterricht urteilen. Bricht
Lange also über diesen den Stab, so denkt man: cs
wird sicherlich nötig sein, und klatscht dazu. Ahu-
ungslos thut dies selbst so mancher Künstler; er be-
inerkt nicht, daß die Thätigkeit, auf die er sich doch
sonst so viel zu gute thut, durch Lange hcrabgesetzt,
d. h. so ziemlich auf cine Stufe gestellt wird mit
der des photographischen Kastens, der ja auch Wahr-
nehmuilgeli cine bestimmte Frist aus sich einwirkcil
läßt, um sie dann zu fixiereu.

Bekanntlich übermittelt der Sehnerv das Bild,
welches sich aus der Netzhaut unseres Auges ab-
spicgelt, in nllen seinen einzelnen Punkten oder Teilen
dem Gehirn. Wir erblicken, so 'lange wir die Augen
offen haben, cine große Menge solcher Bilder, dic
wir einsach wahrnehmen, ohne sie irgendwie ein- .
gehender zu beachten. Uebt aber ein solches Bild
oder nur ein Teil desselben auf unser Gehirn einen
bestimmten Reiz aus, erregt irgend etwas, was wir
erblicken, unserc Aufmerksamkeit, so richtet sich diesc
so lange auf das Erblickte, bis in uns, durch eine
Reihe von Wahrnehmungen, eine Vorstellung cntsteht.
Eine solche Vorstellung kann aber eine ungenügende,
eine irrigc sein, je nachdcm wir gestimmt oder be-
fähigt sind, nlles das zusammenZufaffen, was zur Bild-
ung einer richtigen, genauen Vorstellung gehört, was
diese klärt, was zum Begrifse verhilft. Hierzu
bedarf es des Sehens mit Bewußtseiu.
Das heißt also: einer besonderen Thätigkcit unseres
Gehirns, einer Arbeit des Verstandes, die sich darin
kundgibt, daß wir unsere Wahrnehmungen nach
Bedarf vermehren, indem wir betrachten, beob-
achten, ordnen, vergleichen und unterscheiden, so daß
wir überhaupt alle uns zu Gebot stehenden Geistes-
kräfte heranziehen, um zum Urteil, zum Schluß
zu kommen — um nun zu verstehen, was wir
sehen. So gewinnen wir jene „innere Anschauung", !
die nach Pestalozzi die Grundlage des gesamten,
also auch des künstlerischen Wisfens ist.

Jhnen ist es bekannt, daß vor einem bestirnmten
 
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