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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 10.1896-1897

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Heft 9
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Flinzer, Fedor: Bewusstes Sehen
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https://doi.org/10.11588/diglit.11731#0145

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O

„Mair sehe sich imr die Kreise, die in diesein
Alter (ÜextLch qezeichnet werden, aus unseren Schüler-
ausstellnngen an. Das sind keine Kreise, das sind
Segmente (?), die knmmerlich von einem Teilpnnkt
znm andern gezogen sind nnd eckig an einen nndern
stoßen, stntt ineinander überzugehen. Jst man denn
blind gegen die Thatsachen, die vor jedermanns
Augen stehen?" (S. 119).

Jeder Objektive wird den Grund zn solchen
Vorkommnissen darin suchen, daß der Lehrer ent-
weder seinen Schülern das V e r st ä n d n i s ihrer
Ansgabe nicht beigebracht hat, oder, daß er sich mit
einer gedankenlosen, nnr gefühlsmäßigen, leichtsertigen
„Uebung" begnügte, wahrscheinlich beides that.
Beides aber ist, nach Langes Worten, von ihm selbst
dringend empsohlen, denn er will erst aus der Ober-
stuse, in den drei oberen Klassen des Gymnasiums,
eine strengere Unterweisung in der Perspektive zu-
lassen. Bis dahin soll der Schüler „gesühlsmäßig"
zeichnen. Tie von ihm empsohlene originelle Lehr-
sorm entwickelt er solgendermaßen:

„Ein stundenlanges Erörtern der mathematischen
Eigenschaften der Körper gehört nicht in die Zeichen-,
sondern in die Alathematikstunde. Der Mathematiker
wird anch hier wieder Einsprache dagegen erheben,
daß ihm die Entwickelnng der stereometrischen Be-
grisse, und zwar längere Zeit vor dem Unterricht in
der Stereometrie, vom Zerchenlehrer vorweggenommen
wird. Natürlich muß der Zeichenlehrer dem Schüler
sagen, was ein Würfel nnd eine Pyramide ist. Aber
er darf diese Belehrung nicht in die Form längerer
theoretischer Auseinandersetzungen kleiden, sondern er
muß sie aus kurze Desinitionen beschränken, die er an
das Zeichnen selbst, sei es an sein eigenes Vorzeichnen,
sei es an die Korrektur der Schülerzeichnungen an-
knüpst. Er soll vor allen Dingen den Schüler
zeichnen lassen und bei der Korrektur sehen, ob er
den Körper und das Wesen der Verkürzung verstnnden
hat oder nicht." (S. 148).

Diese Lehrform gleicht dem Verfahren jenes
Kutschers, der sein Pserd den richtigen Weg selbständig
suchen ließ, und nur dann den Zügel anzog, wenn
es den salschen wählte. Es gibt aber bei dem
Zeichnen von Verkürzungen und Schattierungen so
unendlich viet Abwege, daß von einem solchen Rütset-
spiel nur ein unerwünschter Ersolg erreicht werden
kann, der der schließlichen Entkrästung und Entmutig-
ung bei Lehrer und Schüler. Wer aber, nach Langes
^ Vorschtag, schon vom Sextaner verlangt, daß dieser
das Modell eines würfelsörmigen Hauses mit pyra-
midalem, almehmbarem Dache erst in frontaler, dann
in Uebereckstellung usw. zeichnen soll, dem alsdann
ein vier- und ein achteckiger Turm mit Pyramiden-,
ein runder mit kegelförmigem Dach folgen foll, ferner

-

das Nlodell einer mit Halbkuppel überwölbten Nische,
eines Tonnengewölbes, eines 5kuppelgewölbes und
einer Kuget — der kennt entweder den Sextaner
nicht, oder er weiß eine Sudelei von einer Zeichnung
nicht zu unterscheiden, wenn er mit den Erfolgen
eines solchermaßen erteilten Unterrichtes zufrieden ist.

So anerkennenswert es ist, daß ein Profeffor
der Kunftwisfenschaft es für geboten erachtet, seine
Ausmerksamkeit dem Zeichenunterrichte zuzuwenden, so
beherzigenswert gar vieles ist, was er über die künst-
lerische Erziehung der deutschen Jugend geschrieben
hat, so wenig Glück hat er mit seinen Theorien,
welche er für die Besserung des neuzeitlichen Zeichen-
unterrichtes aufstellt, besonders aber in allem, was
er über die Lehrform sagt. Er kennt, wie oben be-
merkt, nur einige schlechte Zeichenstunden der Neuzeit
— guten hat er, wie seine Beschreibung beweist, weder
beigewohnt, noch ihre Resuttate kennen gelernt. Ein
guter Lehrer hält keine die Schüler langweilenden
Reden und vergeudet die Zeit nicht mit wissenschaft-
lichem Flitterkram. Er sührt die Schüler im Gegen-
teil auf möglichst kurzem Wege zum Ziel und behan-
delt dabei nur diejenigen geometrischen Belehrungen
im Zwiegesprüch mit den Schülern, die ein geweckter
Knabe durch eigene sorgfältige Ueberlegung der ihm
geftellten Aufgabe felbständig ßnden und besolgen
kann. Auch dieser, in keiner Klasfe hüusig vorkom-
menden Spezies, ist eine solche Belehrung von großem
Nutzen, denn auch ihnen wird dadurch die flüchtige
Wahrnehmung zur klaren Vorstellung, das gesühts-
mäßige Tasten zum verstündnisvollen Handeln er-
hoben. Eine Lehrform, welche dies bewirkt und die
Gesamtzahl der Schüler zu verhältnismäßig gleicher
Thätigkeit führt, bedarf woht keiner weiteren Em-
pfehlung.

Der Lehrer hat den fichersten Einblick in das
Verständnis des Schülers durch desfen Zeichnung.
Man vermeide daher sorgfältigft alles, was den Schüler
verhindern kann, dieses Verstündnis genügend zu
offenbaren. Auf diesem Grundsatz bernht der Haupt-
erfolg des Zeichenunterrichtes.

Und bis zu welcher Höhe überhaupt die Schluß-
kraft durch den Unterricht entwickelt werden kann, das
hängt ja von der Begabung des Einzelnen ab. Wir
haben z. B. Portrütmaler, welche die Gesetze der
M a ß v e r h ä l t n i s s e und der Verk ü r z u n g
bei der Zeichnung des Kopfes fein empfinden, deren
Schlußkraft aber nicht genügt, um sie beim Zeichnen
von Händen anzuwenden. Jch sprach bisher vom künst-
lerischen Zeichnen und Malen, aus dem einsachen
Grunde, weil ich kein anderes kenne. Der Künstler
kann die Darstellung von unendlich Verschiedenem
erstreben, aber dennoch: es gibt nur ein Zeichnen,
wie es nur e i n Sehen gibt, sagte Eitelberger
 
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