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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 10.1896-1897

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Heft 9
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.11731#0147

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Aber eine andere liebt es so: Gunhild Borkmans
Lchwester Ella Rentheim, die es in trnben Jahren ge-
pflegt nnd erzogen hat, die jetzt noch, ohne Dank zn be-
gehren und zu empfangen, die verarmte Borkmansche
Familie erhält. Jetzt so krank, daß sie ans Sterben denken
muß, kornmt sie her, um Sonnenschein für ihren Spät-
herbst von Erhards Liebe zu suchen, den seine Mutter ihr
entsremdet hat. Sie liebt ihn recht rvie ihren Sohn,
denn sie liebt in ihm auch den Sohn dessen, den sie
selber einmal geliebt und der sie geliebt hat, John Gabriels.
John Gabriels, der sie damals verließ, rveil auch die
stärkste Liebe in seinem Wesen nur ein Zweites war:
ein Mann, ohne den sein Kamps um die Atacht nicht
durchzuführen rvar, setzte John Gabriels Berzicht zum
Preis seiner Hilfe, und da verzichtete John Gabriel. Das
rvar die eigentliche Todsünde in seinem Leben, die Flueh
zeugte mehr als jene vom Gesetze gerächte andcre Sündc:
er hatte „das Liebesleben in einem Menschen getvtet."
Ella wies dcn andern Freier ab, der schob die Schuld
auf John Gabriel und verriet ihn dern Gericht, als er
zur Berwirklichung seiner Riesenpläne sür kurze Zeit an-
vertrautes Geld angegrifsen hatte. Aber nicht das war
das allerschlimmste. Die Lieblosigkeit seiner engeren Welt,
sie empfinden wir als die furchtbarste Vergeltung von
Borkrnans That. Es muß betont werüen: wir empfin-
den sie so, denn klar erkennen läßt uns das Jbsen nicht.

Auch der gesunde Erhard erfriert in dieser Kälte, er-
stiekt in diejer „Stubenluft." Als nun seine Mutter, Ella
und sein Vater, der mit Erhards Mitarbeit wieder ringen
und schassen will, um ihn werben, haben sie ihn alle
drei schon verloren: er reist mit einer schönen Versührerin
in den Süden, denn er ist jung und „will leben, leben,
leben."

So weit sind wir, als der Schlußakt im Schlußakte
einsetzt. Da hallt draußen das Schellengelüut des Schlittens
vorüber, der Erhard in die Ferne trägt. Wie Grabgeläute
scheints seiner Mutter, aber sie hält ihn doch nicht aus.
Für die Heimgebliebenen jedenfalls ist es so etwas.
Borkman ist gebrochen, sie haben ihm nun auch die
Lebenslüge seiner Hossnnngen zerstört. Wie Wahnsinn
steigts vor ihm auf, und es drängt den Fiebernden hin-
aus in die Nache, um ihr, die er geliebt hat und die ihn
halb unbewnßt noch immer liebt, um Ella „sein Reich"
zu zeigen. Von der Bank, die droben über dem Fjord
unter der abgestorbenen Fichte steht, von der aus ist es
zu sehen, das Traumland seines Lebens -- da hört er
am Fluß seine Fabriken gehen, die geschafsen werden
sollten, da fühlt er in den Adern der sernen Berge die
gefesselten Millionen, die er befreien wollte, die leben-
heischenden Werte, die Heimstätten schaffen sollten sür
Tausende. Er weiß es nnn: den Preis sür jenen Atord
am Liebesleben erlangt er nicht. Eine Erzhand packt ihn
ums Herz, er stirbt. Zwei Schatten, reichen sich die
Schwestern über dem Toten die Hand.

Wenn man, mit gutem Rechte allerdings, bei jedem
neuen Werk Fontanes seine Bewunderung darüber aus-
spricht, ivie jugendlich es sei, so scheints ein wenig Mode,
bei neuen Jbsenschen Schöpfungen im Gegenteil das Greisen-
hafte zu suchen. Jch habc, daß ich's gestehe, in John
Gabriel Borkman nicht viel davon finden können. Es ist >
manches Spmbolische darin und einiges ist nicht unge-
sucht, aber von Mystischem enthült dieses Werk weniger,
als seine Vorgünger. Jch kann auch nicht zugeben, daß !
es von den Charakteren nur einen überaus deutlichen !

zwar aber anch eng begrenzten Ausschnitt zeige, wic
er unter der Beleuchtung mit einer bestimmten Jdee schars
h-wvortritt. Ich sehe in diesem Stücke klar abgerundete
Menschengestalten, ja, ich bewundere, wie kühn Jbsen der
wahrhastigen Körperlichkeit zu lieb vft selbst Züge gleich-
sam über seine Jdee weginalt, wie er sich z. B. der Realistik
zu liebe nicht scheut, an tiefernsten Stellen mit Eigen-
schaften zu charakterisieren, die den slüchtigen Beschauer
wie Lücherlichkeiten anmuten müssen. So, wenn er Borkman
ehe der alte Foldal eintritt, eine Schauspielerpose an-
nehmen lüßt, — wcil nämlich Borkman immer auf die
Bnnkdircktvren gespannt ist, die ihn zurückrufen sollcn.
Freilich, wie könnte mit einem einzigen Streich meister-
licher daranf gedeutet werden, daß diese geistig scheinbar
so krastvolle Natur doch im Versalle ist! An Stellen, die
aus ebenso recht dichterische Weise mit knappen Atitteln
tiesdringend charakterisieren, finden sich hier noch manche.
Dramatische Stimmung liegt über fast jeder Szene; sie
ist in den letzten dluftritten von echter Größe nicht nur,
nein, auch von großer dichterischer Schönheit.

Wir sind jetzt in Deutschland, Gottlob, nicht mehr in
der Zwangslage, jedes neue Jbsensche Drama auf seinc
Folgen sür unsere eigene dramatische Produktion hin an-
sehen zu müssen. Jbsen ist kaum noch der leitende Name
einer Partei, die im Nachwandeln auf seinen Wegen allein
das Heil suchte. Um so bereitwilliger dürsen wir das
wahrhast Bedeutende anerkennen, das er uns nun wieder
gegeben hat. Seine Kunst ist der durchaus berechtigte
Ausdruck nur s e iner Persönlichkeit, das aber ist sie nuch.
Und seine Persönlichkeit ist eine bei all ihrer Einseitigkeit
so starke nnd tiefe, daß der Denkende nur sich selber
schadete, wenn er ihre Gedanken und Stimmungen nicht
neben denen anderer erlesener Menschen über sich hinziehen
lassen wollte. At

N e n e G e d i ch ! e von Otto E r n st. (Hamburg,
Conrad Kloß.)

Man sollte keine Kritik einer lyrischen Sammlung
schreiben, ohne wenigstens eine Probe zu geben. Diese
eine Probe, gut gewählt, ermöglicht eine Anschauung der
Art der Gedichte, die durch die eingehendste Charakteristik
ost nicht zn erreichen ist. Für Otto Ernsts . „Neue Ge-
dichte" scheint mir das nachfolgende Stück bezeichnend
zu sein:

G e n ü g e n.

Wie trüg' ich wohl ein Fernuerlangen,

Da hier üer Tag in Rosen blüht,

Die Sonne mich erweckt mit Prangen
Und mir am Abend sanft verglüht?

Vom Garten schon in früher Stunde

Herüber trägt der Morgenwind

Ein Lied aus frohem Kinder-Munde —

Wie singt so hell mein eignes Kind!

Ter Mittagsschlas klingt durch die Saaten.

Wie Arbeit Stirn und tzände bräunt!

Es winkt, vom Werk sich zu beraten,

Zum Heimweg mir ein ernster Freund.

Wie trüg' ich wohl ein Fernverlangen,

Da du mein Rebenhaus bewohnst
llnd mir mit liebendem Umfangen
Am Abend jede Mühe lohnst?

Beseligt von des Tags Geschenken,

Genieß ich sein in spüter Ruh.

Ein letztes, leises Ueberdenken
Und trüumend fällt die Wimper zu.

Otto Ernsts Gedichte sind selten spezifisch-lyrisch, es
ist sast immer ein Element der Reflexion da, doch über-
 
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