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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 10.1896-1897

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Heft 10
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.11731#0160

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legenheit festzustellen, dns; die Phantasiegewalt und Ztiin-
mungsfülle Jensens, die gleichmüßig das Bild des alten
Lübeck wie des mächtigen Wisby, des düsteren Bergen
wie des verschneiten Nowgorod nicht bloß plastisch hin-
zustellen, sondern fast unheimlich zu beleben oermag, doch
von keinem der jüngeren Dichter erreicht, geschweige denn
übertroffen worden ist. Freilich, die bedauernswerte Un-
gleichheit im Schaffen Jensens, die neben vollständig
poetisch Durchdrungenes oft die nackteste Prosa stellt, zeigt
sich auch hier. So bringt er es sertig, an den Eingang
seiner ersten Novelle eine reinhistorische Schilderung des
Charakters des Dänenkönigs Waldemar IV. Atterdag zu
setzen, während es doch die hauptsächlichste Aufgabe der
Novelle selbst ist, diesen Charakter dichterisch verstündlich
zu machen. Selbst die äußeren Motivierungen der Ge-
schichten sind bisweilen schwach. Und doch übt das Ganze
> sicherlich eine starke Wirkung, wie sie nur von einem un-
gewöhnlich begabten Poeten ausgehen kann' die Tage der
Hansa werden einem wirklich lebendig, und man sühlt,
daß man noch durch mancherlei Seelenbande mit den
norüischen Menschen zusammenhängt, die hier vor einem
treten. Adolf Vartels.

Rea ! iftische L r z ä b l u n a e n von Philipp
Lang m a n n. lLeipzig, Robert Friese, Sep.-Cto., M. 2.»

Lin j u n g e r M a n n van >8y5 und andere No-
vellen von Philipp L a n g m a n n. jEbenda.»

Jch hätte große Lust, mit Dtto Julius Bierbaum an-
zubinden. Dieser hat die „realistischen Erzählungen"
Langmanns in der Wiener „Zeit" besprochen und dabei
folgendes von sich gegeben: „Aber es bleibt bestehen: er
ist wirklich ein Dichter. Jch weiß außer ihm keinen, dcr
es in deutscher Sprache so verstünde, Proletarierleben
dichterisch zu gestalten und dvch l?» Innen- und Außen-
perspektiven zu geben. Viele, so auch H a u p t m a n n,
wirken in der Hauptsache doch durch den Stoff (!», und
ihre Erfolge werden mehr durch den Zeitzug sozialen
Mitleids als durch innerlich dichterische Qualitäten ge-
tragen s!>. Bei Langmann geht die Wirkung vom Dichter
selber aus, von dieser Art eindringlicher Erfassung des
Lebens, die Persönlichkeit verrüt, ohne den Thatsachen
Zwang anzuthun. Leider stört ein gewisser Mangel an
Feingefühl sür das Sprachliche. Der Künstler ist dem
Dichter noch nicht ebenbürtig. Vielleicht ist der martialisch
betonte Realist daran schuld, der sich scheut, mit der
Sprache allzufein umzugehen, da das ein Symptom s!)
der Symbolisten ist jAha!). Dies würe ein Grund mehr,
diesem begabten Dichter aufs herzlichste zu raten, er möge
den Nun-erst-recht-Realisten in sich ausdrücklichst (!) aus-
rotten. Hat er dies besorgt, so dürsen wir von ihm wohl
einen Proletarierroman großen Stils und, was noch mehr
wäre, das Proletarierdrama erhoffen, das uns gerade
deshalb fehlt, weil die Leute (Hauptmann!), die derartige
Stoffe bchandeln, glauben, es ließe sich durch bloße Do-
kumentenaufreihung leisten." Es ist immer die alte Ge-
schichte: taucht irgendwo ein neues Talent auf, so ist
immer gleich jemand da, der es gegen andere ältere, die
ihm aus irgend einem Grunde nicht gefallen, oder die er
beneidet, ausspielt, seine Bedeutung übertreibt, nur um
andere Leute zu ärgern. Es ist nicht wahr, daß Haupt-
mann nur durch den Sroff wirkt und seine Erfolge haupt-
sächlich dem sozialen Mirleid verdankt; er ist so gut ein
Dichter und, wenn man die bisherigen Leistungen ver-
gleicht, ein viel größerer Dichter als Langmann: das

Proletarierdrama fehlt uns nicht, und es ist nichts weniger
als bloße Dokumentenaufreihung — die Herren vom Sym-
bolismus machen sich einfach lächerlich, wenn sie glauben,
die wirkliche Bedeutung Hauptmanns, die längst von
deuen sestgestellt ist, die nicht zur Clique gehören, durch
kühne Behauptungen hinwegleugnen zu können. Gewiß
ist nun auch der Oesterreicher Philipp Langmann ein
echtes Talent, auf das man mit Freuden hinweist t er har
die Kinderkrankheiten des Naturalismus, in denen ihn sein
erstes Werk „Arbeiterleben" noch besangen zeigte, glücklich
überstanden und eine Reihe novellistischer Skizzen ge-
schaffen, die zu dem Besten gehören, was wir der neuen
Richtung verdanken, da sie vollstüudige Beherrschung des
Stoffes (wie Bierbaum richtig bemerkt, nuch nach der
„Jnnenseite") und weises Maßhalten vereinen. Ob aber
Langmann einen Proletarierroman großen Stils, ein
Proletarierdrama schaffen kann, das ist noch keineswegs
ausgemacht, und daher entfüllt der Vergleich mit Haupt-
mann ohne weiteres. Die den „realistischen Erzählungen"
folgende Veröffentlichung, die dlovelle „Ein junger Mann
von tsyö" zeigt Langmann einstweilen aus den Bahnen
von — Goethes „Werther", und das gibt mir die Hoff-
nung, daß er sich weiter entwickeln wird. Vielleicht aber
thut ers in ganz anderer Richtung, als die Herren, die
ihn gegen Hauptmann ausspielen, erwarten.

Ad 0 lf BarteIs.

T r a g i k 0 >n ö d i e n. Fünf Geschichten von I 0 ses
Ruederer mit Zeichnungen von Louis Corint. (Ber-
lin, Georg Bondi, Mk. 8.—)

Wie der Oesterreicher Philipp Langmann gehört auch
der Bayer Josef Ruederer zu den jüngeren Talenten, die
den SchulnaturalismuS überwunden, sich aber seine wert-,
vollsten Errungenschasten bewahrt haben. Die Znhl dieser
Talente ist größer, als man denkt, und in ihnen, nicht
in den Symbolisten, sehe ich die Hoffnung unserer Lite-
ratur. Meist sest aus dem Boden ihrer tzeimat stehend,
haben sie gelernt, sich der Technik der neuen Kunst mit
Geschmnck zu bedienen, ihre Lebensbilder sind wahr und
zugleich künstlerisch, d. h. nicht wie die früheren des Na-
turalismus tendenziös, einseitig und gezwungen, sie
wollen in der Regel auch nicht mehr sein, als sie wirklich
sind. Nun hat mnn in unserer Zeit leider die unglück-
selige Neigung, jedes auftauchende Talent sofort auf den
Schild zu erheben und sür das lange erwartere Genie zu
erklären, und das ist denn, wenn ich aus einem Berliner
Berichte des Kunstwarts Schlüsse ziehen darf, auch bereits
mit Josef Ruederer geschehen: Eine neue dramatische
Gesellschast sieht in ihm ihren Gerhart Hauptmann, und
man konstatiert mit dem Brusttone der Ueberzeugung,
daß die ^07 Gipsel über 5000 Meter, die Ruederer als
großer Bergsteiger vor dem Herrn bestiegen hat, sich nun
in seiner Kunst Lust machen. Jawohl, sie machen sich
Lust in diesen „Tragikomödien", die ich, aus das neue
Genie gespannt, mit einiger Sorgfalt studiert habe, aber,
wie es ja auch sehr nahe liegt, nicht als germauische Ur-
kraft, wie man behauptet, sondern als sportsmüßige
„Force", die dem unzweifelhast starken Talent Ruederers
eher gesährlich wird und ihn gelegentlich zu einem un-
künstlerischen auf den Tisch Hauen verführr. Das kommt
den Berlinern natürlich als unverfülschte bajuwarische
Natur vor, es gibt aber so etwas wie eine bayerische und
schwäbische Derbheit, die mit der berühmten Tiroler
Naivetät ethisch und ästhetisch einigermaßen vcrwandt ist.
 
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