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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 10.1896-1897

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Heft 11
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Lier, Leonhard: Von der Märchenkrankheit
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.11731#0175

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streiten, aber es muß auch naiv sein und nicht nur
so scheinen wollen, es muß mehr sein als eine künst-
liche Unterhaltung, die sich keines der raffinierten
technischen Mittel, mit denen unsere Zeit auswarten
kann, entgehen läßt. Eine Vortäuschung des Naiven
abcr, im Gewande des Märchens, droht jetzt Mode
zu werden. Man kann den Zug hierzu genau ver-
solgen von Humperdincks „Hänsel und Gretel", und
den oon Humperdinck mit Ernst Rosmer zusammen
geschaffenen „Königskindern" an bis zu dem kindlich-
unkindlichen Balletzauber des Struwelpeters; und man
kann sicherlich auch die neugeborenen Vers- und Kostüm-
komödien in den Kreis dieser Betrachtung herein-
ziehen. Das bezeichnende Merkmal dieser letzteren Er-
scheinungen, die in literarischer Beziehung kaum
mehr sind als Tageserscheinungen, ist ebenfalls ein
weltslüchtiger Zug, ist das unbewußte Eingeständnis,
aus dem bisher eingeschagenen Weg die Poesie des
Lebens nicht entdecken zu können.

Nicht ohne besonderen Nebensinn verweisen wir
angesichts dieser Wendung wiederum aus ein Wort
Otto Ludwigs aus einer Skizze, in der er das Ver-
hältnis von Poesie und Leben beleuchtet. „DieDichter",
so sagt er da, „haben kein Recht, das Leben, wie es

setzt ist, zu schmähen.Lieber gar keine Poesie,

als eine, die uns die Freude am Leben nimmt, uns
sür das Leben unsruchtbar macht, die uns nicht stählt,
sondern verweichlicht für das Leben. Gerade wo das
Leben, brav geführt, arm ist an Jnteresse, da soll die
Poesie mit ihren Bildern es bereichern; sie soll uns
nicht ivie eine llRta moi-Aovo, Sehnsucht erregen wo
anders hin, sondern soll ihre Rosen um die Pflicht
winden, nicht uns aus dem Dürren in ein vorge-

spiegeltes Paradies locken, sondern das Dürre uns
grün machen".

Von solcher Verklärung des Lebens hat der mo-
derne Naturalismus uns nur wenig gegeben, ja fast
gar nichts. Sein Grundzug ist pessimistisch, zudem
ist er so sozial, daß er gern geneigt ist, alle Verant-
wortlichkeit von der Person aus die Zustände, die
Gesellschaft abzulenken. Wenn aber die Poesie nicht
nur das Gesühl des Lebens erhöhen, sondern auch
den Mut zum Leben, zur That anspornen soll, wird
sie das Recht der Persönlichkeit wieder energisch be-
tonen müssen. Der Mensch mag von dem Milieu,
in dem er auswächst, so viel an sich haben, wie er
will, und es mag sehr interessant sein, zu hören, wie
weit er dadurch beeinslußt wird, aber der sreie Mensch
oder richtiger der nach Freiheit strebende Mensch
schätzt doch nur das, was er sich selbst gegen sein
Milieu abgerungen hat, was er darüber hinaus ge-
worden ist, aus eigener Kraft. Durch unser ängst-
liches Ausschauen nach Einflüssen von außen, nach
all den kleinen psychologischen Rätseln haben wir für
menschliche Größe den Blick verloren und uns in einen
so engen Zirkel drängen lassen, daß wir nun gern
darüber hinausspringen möchten. Das modische Mär-
chen aber rettet uns nicht. Wir brauchen Werke im-
perativer Lebensbejahung und besitzen deren zum >
Glücke schon einige, die auf die wirklichen Errungen-
schasten des Naturalismus nicht verzichten. Gemein-
sam aber ist ihnen allen das zukunstsfrohe: Lebe!,
d. h. lebe im Sein, nicht in der Phantasie! Nicht
Weltflucht, sondern Ersassen des Lebens mit seinem
vielseitigen und unerschöpslichen Gehalte, das sei und
bleibe die Losung! Leonbard Lier.

^7

N u n d sck u u.

Dicdtung.

* Heböne Literntur.

Das Gesicht L h r i st i. Roman aus dem Ende
des Jahrhunderts. Von Max Kretzer. (Dresden,
E. Piersons Verlag. Mk. z,5o).

Wie Uhde Christus in die Hütten der Armen von heute,
sührt Max Kretzer ihn hier in das moderne Berlin ein,
freilich nicht, wie der Maler, wesenhaft, sondern als Er-
scheinung, Vision. Jch mutz gestehen, datz mir schon Uhdes
Versahren immer widerstanden hat, da er da, wo frühere
Zeitalter oöllig naiv handelten, ausden Wegen der Reflexion
ging und die erstrebte Schlichtheit, ja Einfalt doch nicht
völlig ungekünstelt hinzustellen vermochte; bei Kretzer kann
ich nur von einer symbolistischen Aufputzung des natura-
listischen Berliner Romans reden, und die ist mir greu-
lich. Jch bin gewitz kein Wirklichkeitssanatikerundnüchterner
Rationalist, die Bedeutung der Gestalt Christi oder dessen,
was aus dem historischen Christus geworden ist, auch noch
sür unsere Zeit entgeht mir ebensowenig wie die weite

Kreise, auch die der Kunst, durchziehende Sehnsucht nach
dem Glauben und dem Jdeal, die die spärlichen spmbo-
listischen Anfänge in Deutschland neuerdings hat erstarken
lassen. Aber dadurch, datz man die Erscheinung Christi
gleichsam mit elektrischem Scheinwerfer in die Stratzen
Berlins hineinwirft, erreicht man weder einen künstlerischen,
noch auch, wenn es darauf abgesehen sein sollte, einen
moralischen Eindruck, nur den eines Kunststücks, wie sie
die Zauberkünstler machen. Datz Kretzer es recht gut
meint, weih ich, und seine alten künstlerischen Qualitäten
erweist er auch hier wieder; die meisten seiner Gestalten,
selbst Andorf, der am häusigsten durch die Vision Christi
begnadigte, erscheinen im Ganzen naturwahr. Aber gerade
diese Naturwahrheit hindert uns, an die Thatsächlichkeit
der Erscheinungen, wie uns zugemutet wird, zu glauben.
Denn mögen diese Berliner aus dem Volke immer hungern
und beten, sündigen und lästern, es bedars ihretwegen
nicht der Wunder; das gewöhnliche Leben vermag sie zu
belohnen und zu strafen, soweit es nötig ist. Kretzer deutet
hin und wieder an, daß er in seinem Christus das er-

— ws
 
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