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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 10.1896-1897

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Heft 11
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https://doi.org/10.11588/diglit.11731#0183

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er selbst am besten wissen inutz, ob er sich in einem Ge-
gensatz zu mir befindet oder nicht, Doch möchte ich es
ausdrücklich ablehnen, bei jeder Erwühnung eines Mitz-
standes im modernen Zeichenunterricht, die sich in meinen
Schriften findet, gerade ihn persönlich gemeint zu haben.
Meine Polemik richtet sich mindestens ebenso sehr gegen
die Stuhlmannsche Methode, mit der ja auch Flinzer in
wesentlichen Punkten nicht übereinstimmt. Uebrigens habe
ich die Vorzüge beider Methoden gegenüber dcm alten
„Bildchenmachen" jederzeit gern anerkannt, wie aus S.

ff. meiner „künstlerischen Erziehung" zu ersehen ist.
Andererjeits habe ich sreilich ihre Nachteile nie ver-
schuüegen und werde sie auch in Zukunft nie verschweigen,
da ich sie für höchst verderblich halte. Herr Flinzer gehört
ja zu den einfluhreichsten Zeichenpädagogen der Gegen-
wart. Nennt ihn doch dic Kunstwartleitung selbst den
„Reformator des Zeichenunterrichts", „kompetent in dieser
Frage wie wenige". Entweder ist nun seine Methode die
richtigc odcr sie ist es nicht. Jm ersteren Falle künnte
man sich beruhigen und sagen: dieser neue Zeichenunter-
richt behagt mir zwar nicht, aber er hat sich bewührt, er
beruht auf richtigen psychologischen Voraussetzungen und
muß dcshalb von den Schulverwaltungcn möglichst unter-
stützt werden. Jm letzteren Falle würe man genötigt, ihm
umso schärfer entgegenzutreten, je größer der Einslutz ist,
den sein Urheber auf eine große Schar von Zeichenlehrern
ausübt. Jch bin nun allerdings der Ansicht, datz Flinzers
Methode auf falschen psychologischen Voraussetzungen bc-
ruht. Und davon hat mich der erwähnte Vortrag wiedcr
von neuem überzeugt.

Nach der Methode Flinzers sollen dic Kinder wührend
der ersten Jahre nur geometrische Figuren und Flachorna-
mente zeichnen: Dreiecke, Vierecke und Krcise, Achtecke und
Sterne, Rosetten, Müander, Palmetten usw. Jch will nun
gern zugeben, datz vorzügliche Lehrer — und ich habe
keinen Grund, Herrn Flinzer für etwas Anderes zu halten
- unter Umständen auch mit dem sprödesten und lang-
weiligsten Stoff etwas anfangen können. Allein es gibt
auch weniger vorzügliche Lehrer, und die Flinzersche Me-
thode birgt die Gefahr in sich, daß die schlechteren dadurch
irre geleitet und zu einer durchaus nüchternen, verstandes-
mäßigen Auffassung des Zeichenunterrichts geführt werden.
Und mutz denn der Lehrstoff in den ersten Jahren so
spröde und langweilig sein? Gibt es nicht Vorlagen, die
sür ein sechs- bis zehnjähriges Kind interessanter sind als
geometrische Figuren und Flachornamente?

Flinzer begründet seine Methode mit der Theorie des
„bewußten Sehens". Jch habe keine Veranlassung auf die
Verdrehungen einzugehen, die er dabei meinen Aeußer-
ungen zu teil werden läßt. Sätze wie die: „Lange behauptet,
datz der Künstler beim Zeichnen kein Verständnis brauche.
Er erklürt die Hnndgcschicklichkeit sür das Wesentliche, und
meint daher, daß diese, die Technik, als Hauptgegenstand
der Zeichenstunde gefühlsmäßig geübt werden müsse", sind
so vollkommen aus der Luft gegriffen und widersprechen
so sehr den Anschauungen, die ich in meiner „künstlerischen
Erziehung" und meiner „bewußten Selbsttüuschung" nieder-
gelegt habe, datz ich dem Leser des Kunstwarts, der diese
Schristen kennt, nicht mit Citaten aus ihnen zu kommen
brauche, sie zu widerlegen.

Auch auf dic psychologische Grundlage der Flinzerschen
Theorie will ich hier nicht näher eingehen. Wir Aesthe-
tiker lassen uns von Zeichenlehrern und Künstlern gern
über die technischen Bedingungen deä' Kunst und über die

Eigentümtichkeitcn des künstlerischen Schöpfungsprozesses
belehren. Die elementarcn Grundbegriffe des Sehens aber,
das Vcrhältnis von Wahrnehmung, Empfindung, Bewutzt-
sein, Gesühl usm. kennen wir selbst zur Genüge aus der
psychologischen Literatur. Solche, die nicht selbst in der
psychologischen Forschung drin stehen, können uns darüber
kaum etwas Neues sagen. Und wenn sich Herr Flinzer
wundert, daß noch kein Kunstgelehrter unmittelbar von
seincr Theorie dcs bcwußten Sehens Kenntnis genommen
hat, so liegt das wohl einfach daran, daß es sich hier gar
nicht um „seine" Theorie, sondern um etwas handelt, was
sich ganz von sclbst verstcht, und worüber niemals jemand
in Zweisel gewesen ist. Auch ich hatte in meiner „künst-
lerischen Erziehung" (z. B. S. 20) den Unterschied zwischen
dem bloßen Sehen und dem genauen Beschauen, d. h. eben
dem bewußten Sehen der Gegenstünde ausdrücklich hervor-
gehoben. Meine Abweichung von Flinzer üesteht nur darin,
daß ich hierbei nichtstehen bleibe, sondern vom bewnßten
Sehen zum künstlerischen Sehcn, zum ästhet-
ischen Gefühl fortschreite. Flinzer meint, es genüge.
wenn man ein Kind anleite, die Formen der Gegenstände
genau aufzufnssen, miteinander zu vcrglcichen, sich eine
„Vorstellung," einen „Begriff" von irgend einem Gegen-
stande zu bilden. Jch meine, daß dies ein clcmcntnrer,
logischer Vorgang ist, der sich ganz von selbst einstellt und
der in der Schule z. B. inu Anschauungsunterricht, in dcr
Naturkunde usw. schon aus den ersten Stufen geübt wird.
Der Zeichenunterricht hat daneben ctwas andcres und viel
höheres zu bieten. Er soll erstens dic künstlerische An-
schauung ausbilden, d. h. die Fähigkeit, sich nnter dcm
Flächenbildc eines Gegenstandes den Gegenstand selbst
phantasiemäßig vorzustellen, und er soll zweitens die tech-
nische Geschicklichkeit cntwickeln, d. h. die Fähigkeit, ein
solches Flächenbild, sei es nach Vorlage, sei es nach der
Natur selbst, aus das Zeichenblatt zu übertragen. Es ist
selbstverständlich, datz mit dieser Thätigkcit gleichzeitig eine
Uebung im Auffassen und bewußten Sehen verbunden, daß
dns eine ohne das anderc nicht denkbar ist. lleberhnupt
sällt es mic gar nicht ein, zu behaupten, daß das Kind geo- ^
metrische Figuren nicht lernen solle vcrstandesmäßig auf-
zufassen. Aber ich bin der Ansicht, datz dazu die
Raumlehre da ist, und daß der Zeichenlehrer besser
thäte, den hohen se l b st ä n d i g en und eigenartigen
Wert des Zeichenunterrichts möglichst scharf zu betonen,
statt Jahre lang nichts anderes zu thun, als angewandte
Geometrie zu treiben, d. h. die Kinder im freihändigcn
Konstruieren geonietrischer Figurcn zu unterweisen. llnter-
richtsfächer, die den Verstand ausbilden, haben wir in der
Schule schon genug, llnterrichtsfächer, in denen das Ge-
fühl, die künstlerische Phantasie gepflegt wird, nur sehr
wenige: Singen und Zeichnen, Liederlernen und in den
oberen Klassen ein Teil der Schriftsteller-Lektüre, das ist
alles. Die Fähigkcit der rüumlichen Jllusion, des ästhet-
ischen Genusses an Werken der bildenden Kunst kann nur
im Zeichenunterricht ausgebildet werden. Ilnd gerade diese
seine wichtigste und größte Aufgabe wird bei seinem
jetzigen Bstriebe in der Re.gel vernachlässigt.

Das ist auch ganz offenbar der Grund, warum unsere
Schulverwaltungen das Zeichnen meistens so über die Achsel
ansehen. Früher, vor der Flinzerschen Reform, verachteten
sie es, weil es ein bloßes „Bildchenmachen" war, bei dem
es nur auf eine gewisse technische Routine ankam. Jetzt
verachten sie es, weil es den Anspruch macht, mit den
übrigen Fächern als gleichberechtigt aufzutreten, und doch
 
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