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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 10.1896-1897

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Heft 17
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Bartels, Adolf: Specifische Lyrik
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https://doi.org/10.11588/diglit.11731#0270

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lyrischen Dichtung nach natürlichen Kennzeichen zu-
samm^n- und einander gegenüber ordnet und leichte
und zwanglose Anwendung gestattet. Daszu schafsen
wird nun freilich keine leichte Aufgabe sein, aber für
möglich halte ich es. Dann werden ja wohl die
Zeiten vorüber sein, wo uns die Schulpoetik mit der
Nomenklatur von Ode, Lied, Elegie u. s. w. abspeiste
und die Durchschnittskritiker zur Charakteristik neuer
Lyrik weiter nichts zu sagen wußten, als, ob sie
sangbar oder nicht sangbar, Gefühls- oder Reflexions-
poesie fei.

Bis nun das große Spftem da ist, habe ich
mir einstweilen meine besondere Einteilung der Lyrik
in spezifische und Gelegenheitslyrik zurechtgelegt. Viel-
leicht hat sie einige Aussicht, für das System benutzt
zu werden; denn „natürlich" scheint sie mir auch.
Freilich, einen großen Fehler wird sie in den Augen
sehr vieler Leser haben: sie widerspricht den Anschau-
ungen Goethes. Dieser nennt bekanntlich das Ge-
legenheitsgedicht die erste und echteste aller Dicht-
arten, ja, er verlangt geradezu, daß alle Gedichte
Gelegenheitsgedichte seien. „Die Welt ist so groß
und reich und das Leben so mannigfaltig", sngte er
zu Eckermann, „daß es an Anläsfen zu Gedichten
nie fehlen wird. Aber es müfsen alles Gelegenheits-
gedichte sein, das heißt, die Wirklichkeit muß die
Beranlasfung und den Stoff hergeben. Allgemein
und poetifch wird ein spezieller Fall eben dndurch,
daß ihn der D i ch t e r behandelt. Alle meine Ge-
dichte find Gelegenheitsgedichte, sie sind durch die
Wirklichkeit angeregt und haben darin Grund und
Boden. Von Gedichten aus der Luft gegriffen halte
ich nichts." Daß man Gedichte aus der Luft greifen
kann, glaube ich auch nicht, aber andererseits bin
ich der Anficht, daß es eine Lyrik gibt, die nnt der
Wirklichkeit fehr wenig zu thun hat. Jch meine eine
Lyrik, die aus der Seele des Dichters so auftaucht,
daß er selbst nicht weiß, von wannen sie kommt und
ivohin sie fährt, die aus den Tiefen des Lebens,
des Seins felbst guillt, und wie sie ihren Urfprung
einer Gelegenheit nur fehr mittelbar verdankt, auch
die Gelegenheit nicht mit in das Gedicht hinüber-
nimmt, sie nicht verewigt wie das Gelegenheitsge-
dicht. Diese Lyrik, die gewisfermaßen aus Stim-
mungen geboren wird', in denen Dichter- und Welt-
geist zufammenfließen, die durchaus elementar, die
Urlyrik ift, dabei freilich in der inneren und äußeren
Form unbewußt von dem fchaffenden Jndividuum
beftimmt, diese Lyrik nenne ich die f p e z i f i s ch e
Lyrik. Und ich finde sie bei allen großen Lyrikern,
vornehmlich auch bei Goethe, trotz deffen gegenteiliger
Behauptung. Oder sind die beiden Nachtlieder,
Prometheus, Ganymed wirklich Gelegenheitsgedichte?
Ja, wir wisfen, daß das „Ueber allen Gipfeln ist

Ruh" auf dem Kickelhahn entftanden ist, das nächt-
liche Schweigen der Wälder hat wohl die Gelegen-
heit ergeben, aber die Hauptsache ist denn doch das
Urgefühl, das in Goethe aufguoll und ihn weit über
die Wirklichkeit emportrug, von der denn auch im
Gedicht kaum eine Spur geblieben ist. Wer braucht
auch, um das Gedicht tief nachzuempfinden, etwas vom
Kickelhahn zu wisfen? Es ist eins jener Stücke, die
gar nicht anders zu denken sind und wie die Natur selbst
wirken. Das thut alle fpezistsche Lyrik. Als Goethe
seine Theorie des Gelegenheitsgedichtes ausstellte,
da war er eben schon in dem äußerlichen Realismus
seines Alters befangen, der ihn bei dem Natur-
dichter Fürnstein Gedichte über den Hopfenbau und
das Weben bestellen ließ; die Praxis des jungen
Goethe widerlegt ihn taufendmal. Ganz konseguent
ist auch der moderne Realisinus in die Einseitigkeit
Goethes verfallen; Karl Bleibtreu war es, der das
elektrische Licht der Berliner Straße in die Lyrik
eingeführt haben wollte, und in der That haben
manche der jüngeren Lyriker ihre Gedichte streng
lokalisiert. Warum nicht? Jch habe gar nichts
dagegen, aber das höchste der Lyrik erreicht man auf
diese Weise nicht, man taucht nur die Dinge in
Stimmung, gibt aber nicht Stimmung unmittelbar.

Jch lasse hier zwei Gedichte folgen, eins von
Goethe, eins von Mörike.

Willkominen und Abschied.

Es schlug mein Herz: geschwind zn Pferde!

Es war gethan fast eh' gedacht;

Der Abend wiegte schon die Erde
Und an den Bergen hing die Nacht:

Schon stand im Nebelkleid die Eiche
Ein aufgetürmter Riese da,

Wo Finsternis aus dem Gesträuche
Mit hundert schwarzen Augen sah.

Der Mond vor einem Wolkenhügel
Sah kläglich aus dem Duft hervor:

Die Winde schwangen leise Flügel,

Umsausten schauerlich mein Ohr;

Die Nacht schuf tausend Ungeheuer,

Doch frisch und fröhlich war mein Mut;

Jn meinen Adern welches Feuer!

Jn meinem Herzen welche Glut!

I

Dich sah ich, und die milde Freude
Floß von dem süßen Blick auf mich;

Ganz war mein Herz an deiner Seite
Und jeder Atemzug für dich.

Ein rosenfarbnes Frühlingswetter
Umgab das liebliche Gesicht,

Und Zürtlichkeit für mich — ihr Götter!

Jch hofft' es, ich verdient' es nicht.

Doch ach schon mit der Morgensonne
Verengt der Abschied mir das Herz:

Jn deinen Küssen, welche Wonne!

Jn deinem Auge, welcher Schmerz!
 
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