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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 10.1896-1897

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Heft 21
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Carstanjen, Friedrich: Naive Kritik und Reflexion im Kunstgenuss
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https://doi.org/10.11588/diglit.11731#0335

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ihren Füßen sitzen müßten. Das ist die egoistische,
aber naturgemäße Ueberhebung der Jugend mit ihrem
Krastgefühl, mit ihrer Sastgeschwelltheit, die erst ge-
mindert wird durch spätere Selbstkritik, umfassendere
Kenntnisse und ausgeglichenere Lebensauffassung.

Für den echten großen Künstler, für den groß-
denkenden, ist das alles keine Krünkung; er hat seine
Befriedigung in sich selbst, und in der Anerkennung
derjenigen, denen er gefällt, die mit ihm fühlen —
und seien das noch so wenige, er sindet sie ja doch
immer. Der wahre Künstler ist nicht abhängig von
der „Jedermanns-Kritik" ; er hungert nicht nach ihr, er
achtet ihrer nicht, er legt ihr keine Wichtigkeit bei,
weder wenn sie lobend ausfällt, noch wenn sie ihn
bespöttelt; sie freut ihn nicht und kränkt ihn nicht.
Oder aber er achtet nur auf sie, um seine Zeit und
ihren Geschmack beurteilen zu können — nicht aber
um daran Wert oder Unwert seiner Leistung Zu er-
kennen. Nein! Taugt ein Werk in sich etwas, be-
deutet es eine Förderung, eine gedankliche Neulösung,
so werden alle absprechenden, unverständigen Be-
merkungen es nicht schlechter und geringwertiger
machen (wie andererseits auch alle noch so „verstän-
digen" Bemerkungen seinen Wert nicht erhöhen); ja,
erstere werden vielleicht einmal dazu dienen, die Höhe
der geistigen Vorbereitung seines Schöpfers über der-
jenigen seiner Zeit um so schärser hervortreten zu
lassen.

Wie war es doch mit Böcklin? Hat das naive
Verhalten des Konsuls Wedekind, haben die Witze
der Baseler über die Museumsfresken, haben die
Reden von Reichensperger im Abgeordnetenhaus ihn
zu erniedrigen vermocht? Jm Gegenteil, sie sind ein
Blatt in seinem Lorbeerkranze geworden. Und haben
sie ihn gekränkt? Jch glaube, sie legten den zünden-
den Funken in seine Phantasie, die dann empor-
loderte und in seinen Sandsteinmasken einen ver-
körperten Ausdruck sand. War es nicht mit Richard
Wagner ebenso? Was haben seinen Werken und
seinem Schassensgeiste die Flut von Schmähschriften
geschadet?

So bedauerlich das alles ist, und so sehr wir
uns auch gestehen müssen, es wäre besser, wenn es
ohne diese Kämpse zwischen dem Geschmack der Zeit
und dem Geschmack eines sördernden Künstlers ab-
ginge — so offen müssen wir uns auch sagen, es ist
nun einmal so und läßt sich nicht ändern, so lange
es noch Abweichungen im Denken der Menschen
gibt, so lange noch nicht die Unisormität der Er-
ziehung mit ihrer alles nivellierenden Kraft jeden
Unterschied zwischen uns ausgetilgt hat. Dies Ziel
aber, so sehr es von vielen anscheinend angestrebt
wird in ihrer Kleinheit und Enge der Gesinnung, —
Gott sei Dank es ist unerreichbar.

Jst es aber unerreichbar, ist sür die Allgemein-
heit alle Aenderung in dieser „besten aller Welten"
unmöglich, so hilst alles Jammern und Wehklagen
nichts, hilst alles Schreiben gegen die Ungeheuer-
lichkeit eines naiv - ästhetischen Verhaltens nichts,
(äußere es sich nun negatio oder positiv) und so
bleiben wir lieber ganz einsach dabei zu sagen:
Es ist so, basta, wir haben uns damit abzufinden.

Wir brauchen keinen Kunst-Knigge. Wir wollen
uns nicht vorsagen lassen, w i e wir Bilder betrachten
wollen, oder wie Bilder betrachtet sein so ll e n.
Wir brauchen nur einen geistvollen Führer, der uns
sagt, was wir sehen sollen, er soll uns zu dem
eigentlichen Gehalt eines Werkes leiten, die Art
aber wie wir ihn auffassen, uns selbst und unserer
Jndividualität überlassen, sei diese Art nun eine
naive oder eine reslektierende. Vor allen Dingen
aber brauchen wir Duldsamkeit, daß, wenn jemand
auf dem einen Standpunkt steht, er sich das Ver-
ständnis und die Schätzung des andern bewahrt.

Thun wir das nicht, so ziehen wir die Phrase
groß und jenes Herumwerfen mit Schlagwörtern,
das noch viel widerlicher ist als eine naive Verwer-
fung, sei es selbst in drastischen Ausdrücken. Ein
naives, aber originelles Urteil zu hören, auch wenn
es ein absprechendes ist, muß selbst der Künstler,
den es betrifft, höher schätzen, als ein angelerntes,
phrasenhastes, blasiertes, das den guten Ton bewahrt,
aber ost von noch krasserem Mißverständnis oder
Unverständnis zeugt. Und wenn wir Schulung des
Geistes beim Einzelindividuum haben wollen, so soll
es uns in erster Linie daran liegen, gesunde
naioe Urteile zu erzielen, nicht solche eines
reslektierend-ästhetischen Verhaltens. Richtet man die
Schulung des Verständnisses auf letztere, so heißt
das beim Ende anfangen. Mehr Naivetät, mehr
Unmittelbarkeit der Freude an Form und Farbe,
am Gehalt, an dem, was uns der Künstler bietet
— daraus kommt es heute an. Nicht daraus, die
so einseitig gepslegte Reslexion und Verstandeskritik,
die so einseitig betonte Lust allein an der technischen
Bewältigung einer Ausgabe noch mehr zu betonen
und in den Vordergrund zu stellen.

Und schließlich, wenn es dann aufbeiden
Seiten, im naiv-ästhetischen Urteilen wie im reslek-
tierenden, unangenehme, störende, sagen wir selbst:
kränkende Aeußerungen gibt, nun, so ist dem Künstler
nur ein wenig von jener weisen Hiddigeigei-Philo-
sophie anzuraten, die da sagt:

„Doch was nützts? Jch kann den Haufen

Nicht auf meinen Standpunkt ziehn"
u. s. w. — man weiß ja, wo mans nachlesen kann.

Fr. Larstanjen.

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