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konservativen Zeitungen hat es nicht gestanden, daß die ^
sozialdemokratischen Arbeitermassen von rohem Materialis-
mus durchseucht seien? Jn wie vielen Köpfen lebt nicht
der sozialdemokratische Arbeiter als ein Mensch, dein der
Sinn sür alles Höhere erstorben ist, der in Volksver-
sammlungen seinen ungewaschenen Mund ausreißt und nur
den gemeinsten sinnlichen Freuden zugänglich ist? Wenn
dem so wäre — mit welchem rohen Hohn müßten die-
jenigen überfallen werden, die auf einem Kongreß üer
Partei sittlichen Jdealismus predigten! Und doch waren
es Arbeiter und gerade Arbeiter, die von der »Neuen
Welt« verlangten, daß sie die sittlichen Empfindungen
der Bruderliebe, des Opsermutes u. s. w. wecken sollte
und der Berufsliterat Steiger mußte die moderne Kunst
gegen den ungerechtfertigten Vorwurf der laxen Moral
verteidigen. Wie ost ist nicht gesagt worden, daß die
Sozialdemokratie die Familien verwüste — und doch ge-
schah es auf einem sozialdemokratischen Parteitag, daß
das unverdorbene Gemüt der Kinder gegen die Unge-
schminktheiten des Naturalismus ins Feld geführt wurde
und zwar — um es noch einmal zu sagen, gerade von
den Repräsentanten, die aus der Arbeiterklasse selbst her-
vorgegangen sind, Und daß es geschah, war gut. Der
soziale Optimismus, den man daraus schöpfen darf, rviegt
die schlechte ästhetische Musik, die bei derselben Gelegenheit
gemacht wurde, bei weitem auf."
* Pcbrtttcn iwer Licstbettk.
Ln t wi ck lun gsfakt o r en der n i e de r län disch en
chr üb r en ai ss an e e. Ein Vcrsuch zur Pspchologie des
künstlerischen Schaffens von Friedrich Carstanjen.
(Leipzig, O. R. Reisland.)
Seit der Verösfentlichung der „biologischen Psycho-
logie" von Richard Avennrius, die niedergelegt ist in
seinen Werken „Kritik der reinen Erfahrung" und „der
menschliche Weltbegriss", sind schon verschiedentlich Bear-
beitungen spezieller Wissenschaftsgebiete vom Standpunkt
dieser biologisch-psychologischen Weltanschauung aus unter-
nommen worden. Damit hat sich die tzosfnung zu ver-
wirklichen begonnen, die Richard Avenarius im Vorwort
der Kritik der reinen Erfahrung ausgesprochen hatte: daß
die in seinen Werken dargelegten philosophischen Ansichten
eine allgemeine Grundlegung bedeuten möchten nicht nur
für die Wissenschastslehre überhaupt, sondern auch für die
Spezialwissenschasten, sofern sie philosophisch betrachtet
werden künnen. Zu diesen Bearbeitungen spezialwissen-
schastlicher Themata aus biomechanischer Grundlage gehört
als neueste Erscheinung die obengenannte Abhandlung von
Friedrich Carstanjen, die übrigens auch die beste der bis-
herigen, auf derselben philosophischen Grundlage beruhen-
den Arbeiten genannt werden muß, die beste, weil sie eine
durchgüngig immanente Verwertung des gewählten Stand-
punktes darbietet.
An dem besonders in die Augen springenden Beispiel
der Entwicklung der niederlündischen Frührenaissance zeigt
Carstanjen den psychologischen Mechanismus des künst-
lerischen Schasfens, dessen Grundtypus mit dem alles
menschlichen Verhaltens, soweit es Entwicklung bedeutet,
zusammenfällt. Was veranlaßt den Fortschritt in der
Kunst? Zunächst wird er hervorgebracht durch ein Jndi-
viduum, den Künstler; was treibt diesen zur Umgestaltung
der Kunst? Jst es, wie man so oft behauptet, der Ein-
sluß der Zeit, und der Kultur, in welcher er lebt, wie es
die soziologische Kunstbetrachtung betont? Die soziolo-
gischen Faktoren wirken aus alle Angehörigen der betrefsen-
den Zeit, und doch sind es immer nur wenige, ist es viel-
leicht nur einer, der einen Fortschritt in der Kunst zu
Wege bringt. Es kommt hierfür somit nicht nur darauf
an, d aß soziologische Einslüsse wirken, sondern, aus w en
sie wirken. Damit ist gesagt, daß das Schwergewicht sür
die Entwicklung der Kunst in überwiegendem Matz auf
Rechnung des künstlerischen Jndividuums zu setzen ist,
speziell auf dessen ganzen psychologischen Mechanismus.
Jedem Künstler liegt — wenn man von den primitivsten
Uranfängen der Kunst absieht — eine bestimmte traditi-
onelle Kunstform vor. Was treibt ihn dazu, diese zu
variieren? Diese Frage wird gewöhnlich damit beant-
wortet, datz man, was der Künstler schließlich erreichte,
als das von vornherein bewußte Ziel angibt, auf das
der Künstler zusteuerte. Bedeutete z. B. das Wirken eines
Malers seinen Vorgängern gegenüber die Erreichung einer
größeren Naturwahrheit, so meint man die obige Frage
damit abgethan, daß man behauptet, der Künstler habe
die ihm überlieferte Kunstform variiert, um eine größere
Naturwahrheit zu erzielen. Damit hat man nichts erreicht,
als den Ersolg willkürlich zum bewußten Ziel ge-
macht zu haben. Dagegen sagt Carstanjen mit Recht: um
sich srei zu halten von jeder Vorwegnahme des Erfolgs
und von jedem Hineinsehen der erst späteren Wirkung in
das Ansangsstadium, ist es nötig, möglichst voraussetzungs-
los an die Darlegung einer Entwicklung zu gehen und sie
nur in ihre Momente zu zerlegen und zu beschreiben, —
das bedeutet also dieselbe Methode, wie sie Richard Ave-
narius für die Philosophie überhaupt in Anspruch nimmt
und wie sie vor ihm namhafte Forscher sür bestimmte
Wissensgebiete gesordert hatten, wie Kirchhofs, Mach, R.
Meyer. Das voreilige Unterschieben und Hineinlegen ist
überhaupt der Mangel, an dem alle Wissenschaft (die Ma-
thematik allein vielleicht ausgenommen) kraitt':. Diesen
Mangel zu beseitigen dringt R. Avenarius aus die Methode
der reinen Veschreibung als der einzig „objektiven" für
die Philosophie überhaupt, Carstanjen sür das Gebiet der
Aesthetik, nls deren einen Teil er das künstlerische Schafsen
ansieht, und den er, was auch bisher noch kaum geschehen
ist, vom ästhetischen Genießen sauber trennt. Auf dem
Weg der Beschreibung findet der Verfasser nun, daß alles
künstlerische Verhalten, auf dem ja der Fortschritt in der
Kunst beruht, ein Spezialfall des asfektiven Verhaltens
überhaupt sei. Demgemäß tritt im ersten Abschnitt des
psychologischen Prozesses, in welchem der fortbildende
Künstler sich bewegt, als treibendes Motiv die Unlust auf,
hervorgerufen durch den Überschuß an Kraft, der durch die
Ausübung der Kunst im traditionellen Sinn nicht in An-
spruch genommen werden konnte. (Ein Künstler, dessen
ganze Krast sich im Erlernen und Nachschasfen des bisher
Erreichten erschöpft, kann ja nie ein Fortbildner der Kunst
werden). An dieses Gefühl der Unlust muß sich mit bio-
logischer Folgerichtigkeit das Streben anschließen, die Unlust
zu beseitigen. Kann dies der Künstler nicht aus dem Weg
der Beschäftigung mit der Kunst im traditionellen Sinn,
so muß er es auf einem anderen Weg versuchen. So
ergibt sich als zweite Phase des psychologischen Prozesses
im künstlerischen Verhalten die „Lust zur Änderung", an
welche sich das „Suchen nach der Anderslösung" an-
schließt. Diese Anderslösung oder Neulösung in der Kunst
kann nur erreicht werden durch eine Umgestaltung oder
neue Erfindung auf dem Gebiete der Technik, durch Be-
arbeitung neuer der Kunst bisher unzugänglicher Vorwürfe
konservativen Zeitungen hat es nicht gestanden, daß die ^
sozialdemokratischen Arbeitermassen von rohem Materialis-
mus durchseucht seien? Jn wie vielen Köpfen lebt nicht
der sozialdemokratische Arbeiter als ein Mensch, dein der
Sinn sür alles Höhere erstorben ist, der in Volksver-
sammlungen seinen ungewaschenen Mund ausreißt und nur
den gemeinsten sinnlichen Freuden zugänglich ist? Wenn
dem so wäre — mit welchem rohen Hohn müßten die-
jenigen überfallen werden, die auf einem Kongreß üer
Partei sittlichen Jdealismus predigten! Und doch waren
es Arbeiter und gerade Arbeiter, die von der »Neuen
Welt« verlangten, daß sie die sittlichen Empfindungen
der Bruderliebe, des Opsermutes u. s. w. wecken sollte
und der Berufsliterat Steiger mußte die moderne Kunst
gegen den ungerechtfertigten Vorwurf der laxen Moral
verteidigen. Wie ost ist nicht gesagt worden, daß die
Sozialdemokratie die Familien verwüste — und doch ge-
schah es auf einem sozialdemokratischen Parteitag, daß
das unverdorbene Gemüt der Kinder gegen die Unge-
schminktheiten des Naturalismus ins Feld geführt wurde
und zwar — um es noch einmal zu sagen, gerade von
den Repräsentanten, die aus der Arbeiterklasse selbst her-
vorgegangen sind, Und daß es geschah, war gut. Der
soziale Optimismus, den man daraus schöpfen darf, rviegt
die schlechte ästhetische Musik, die bei derselben Gelegenheit
gemacht wurde, bei weitem auf."
* Pcbrtttcn iwer Licstbettk.
Ln t wi ck lun gsfakt o r en der n i e de r län disch en
chr üb r en ai ss an e e. Ein Vcrsuch zur Pspchologie des
künstlerischen Schaffens von Friedrich Carstanjen.
(Leipzig, O. R. Reisland.)
Seit der Verösfentlichung der „biologischen Psycho-
logie" von Richard Avennrius, die niedergelegt ist in
seinen Werken „Kritik der reinen Erfahrung" und „der
menschliche Weltbegriss", sind schon verschiedentlich Bear-
beitungen spezieller Wissenschaftsgebiete vom Standpunkt
dieser biologisch-psychologischen Weltanschauung aus unter-
nommen worden. Damit hat sich die tzosfnung zu ver-
wirklichen begonnen, die Richard Avenarius im Vorwort
der Kritik der reinen Erfahrung ausgesprochen hatte: daß
die in seinen Werken dargelegten philosophischen Ansichten
eine allgemeine Grundlegung bedeuten möchten nicht nur
für die Wissenschastslehre überhaupt, sondern auch für die
Spezialwissenschasten, sofern sie philosophisch betrachtet
werden künnen. Zu diesen Bearbeitungen spezialwissen-
schastlicher Themata aus biomechanischer Grundlage gehört
als neueste Erscheinung die obengenannte Abhandlung von
Friedrich Carstanjen, die übrigens auch die beste der bis-
herigen, auf derselben philosophischen Grundlage beruhen-
den Arbeiten genannt werden muß, die beste, weil sie eine
durchgüngig immanente Verwertung des gewählten Stand-
punktes darbietet.
An dem besonders in die Augen springenden Beispiel
der Entwicklung der niederlündischen Frührenaissance zeigt
Carstanjen den psychologischen Mechanismus des künst-
lerischen Schasfens, dessen Grundtypus mit dem alles
menschlichen Verhaltens, soweit es Entwicklung bedeutet,
zusammenfällt. Was veranlaßt den Fortschritt in der
Kunst? Zunächst wird er hervorgebracht durch ein Jndi-
viduum, den Künstler; was treibt diesen zur Umgestaltung
der Kunst? Jst es, wie man so oft behauptet, der Ein-
sluß der Zeit, und der Kultur, in welcher er lebt, wie es
die soziologische Kunstbetrachtung betont? Die soziolo-
gischen Faktoren wirken aus alle Angehörigen der betrefsen-
den Zeit, und doch sind es immer nur wenige, ist es viel-
leicht nur einer, der einen Fortschritt in der Kunst zu
Wege bringt. Es kommt hierfür somit nicht nur darauf
an, d aß soziologische Einslüsse wirken, sondern, aus w en
sie wirken. Damit ist gesagt, daß das Schwergewicht sür
die Entwicklung der Kunst in überwiegendem Matz auf
Rechnung des künstlerischen Jndividuums zu setzen ist,
speziell auf dessen ganzen psychologischen Mechanismus.
Jedem Künstler liegt — wenn man von den primitivsten
Uranfängen der Kunst absieht — eine bestimmte traditi-
onelle Kunstform vor. Was treibt ihn dazu, diese zu
variieren? Diese Frage wird gewöhnlich damit beant-
wortet, datz man, was der Künstler schließlich erreichte,
als das von vornherein bewußte Ziel angibt, auf das
der Künstler zusteuerte. Bedeutete z. B. das Wirken eines
Malers seinen Vorgängern gegenüber die Erreichung einer
größeren Naturwahrheit, so meint man die obige Frage
damit abgethan, daß man behauptet, der Künstler habe
die ihm überlieferte Kunstform variiert, um eine größere
Naturwahrheit zu erzielen. Damit hat man nichts erreicht,
als den Ersolg willkürlich zum bewußten Ziel ge-
macht zu haben. Dagegen sagt Carstanjen mit Recht: um
sich srei zu halten von jeder Vorwegnahme des Erfolgs
und von jedem Hineinsehen der erst späteren Wirkung in
das Ansangsstadium, ist es nötig, möglichst voraussetzungs-
los an die Darlegung einer Entwicklung zu gehen und sie
nur in ihre Momente zu zerlegen und zu beschreiben, —
das bedeutet also dieselbe Methode, wie sie Richard Ave-
narius für die Philosophie überhaupt in Anspruch nimmt
und wie sie vor ihm namhafte Forscher sür bestimmte
Wissensgebiete gesordert hatten, wie Kirchhofs, Mach, R.
Meyer. Das voreilige Unterschieben und Hineinlegen ist
überhaupt der Mangel, an dem alle Wissenschaft (die Ma-
thematik allein vielleicht ausgenommen) kraitt':. Diesen
Mangel zu beseitigen dringt R. Avenarius aus die Methode
der reinen Veschreibung als der einzig „objektiven" für
die Philosophie überhaupt, Carstanjen sür das Gebiet der
Aesthetik, nls deren einen Teil er das künstlerische Schafsen
ansieht, und den er, was auch bisher noch kaum geschehen
ist, vom ästhetischen Genießen sauber trennt. Auf dem
Weg der Beschreibung findet der Verfasser nun, daß alles
künstlerische Verhalten, auf dem ja der Fortschritt in der
Kunst beruht, ein Spezialfall des asfektiven Verhaltens
überhaupt sei. Demgemäß tritt im ersten Abschnitt des
psychologischen Prozesses, in welchem der fortbildende
Künstler sich bewegt, als treibendes Motiv die Unlust auf,
hervorgerufen durch den Überschuß an Kraft, der durch die
Ausübung der Kunst im traditionellen Sinn nicht in An-
spruch genommen werden konnte. (Ein Künstler, dessen
ganze Krast sich im Erlernen und Nachschasfen des bisher
Erreichten erschöpft, kann ja nie ein Fortbildner der Kunst
werden). An dieses Gefühl der Unlust muß sich mit bio-
logischer Folgerichtigkeit das Streben anschließen, die Unlust
zu beseitigen. Kann dies der Künstler nicht aus dem Weg
der Beschäftigung mit der Kunst im traditionellen Sinn,
so muß er es auf einem anderen Weg versuchen. So
ergibt sich als zweite Phase des psychologischen Prozesses
im künstlerischen Verhalten die „Lust zur Änderung", an
welche sich das „Suchen nach der Anderslösung" an-
schließt. Diese Anderslösung oder Neulösung in der Kunst
kann nur erreicht werden durch eine Umgestaltung oder
neue Erfindung auf dem Gebiete der Technik, durch Be-
arbeitung neuer der Kunst bisher unzugänglicher Vorwürfe