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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 18,2.1905

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Heft 16 (2. Maiheft 1905)
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Kalkschmidt, Eugen: Von allerhand Festlichkeit
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Bartels, Adolf: Der Don Quijote
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https://doi.org/10.11588/diglit.11879#0237

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einer Zivilisation, die keinen Heller wert ist, wenn sie uns den harm-
losen Aufschwung der Seele zu wahrer Festlichkeit verkümmert und
verschließt! L Ralkschmidt

ver Vcm LZuijole

Die wahrhast Großen der Wcltliteratur gehen in der Tat, wie
sich einer unsrer Dichter ausdrückte, aus den Nagel des Daumens:
Homer, vielleicht Firdusi (den kenne ich nicht genug, um ihn sicher zu
beurteilen), Dante, Cervantes, Shakespere, Goethe — das ist alles.
Und das griechische tragische Dreigestirn Aeschylus, Sophokles, Euri-
pides, dazu Aristophanes? Und Wolsram von Eschenbach nnd Gottsried
von Straßburg? Und Ariosto und Tasso? Und Rabelais, Molisre,
Viktor Hugo? Und Chaucer, Milton, Byron? Und Lessing und
Schiller, Hebbel und Keller? Und Henrik Jbsen und Leo Tolstoi?
Ja, das sind alles in ihrer Art geniale Erscheinungen, nationale
Gcnien, und wenn man Weltliteratur im Goetheschen Sinne aussaßt,
dann zählen sie sicher und noch manche andere mit, auch muß der
Gebildete sie kennen. Jedoch, wenn es sich um „Menschheit" im
allerhöchsten Sinne handelt, wenn der Begriss der „Ewigkeit" (so
bedenklich er immerhin bleibt) angcwandt werden soll, dann kommen
nur jene süns oder sechs in Betracht, und es stört uns weiter nicht,
daß kein Franzose dabei ist und auch noch kein Slave, so gut wir
wissen, was Molitzre bedeutet, und auch, was Leo Tolstoi besagt.
Homer, der objektive Epiker, Dante, der subjektive, Cervantes, der
Begründer des Romans, Shakespere, der Dramatiker, und Goethe,
der Lyriker (in dem Sinne, daß selbst seine Dramen und Romane
zuletzt Lyrik sind), da haben wir die Dichter, die die Menschheit wirk-
lich braucht, die sie, ihr letzter Vertreter, mit aus jene siktive ein-
same Jnsel zu nehmen hätte, von der dann die ebenso siktive neue
Menschheit ausgehen würde. Nnser ganzes menschliches Wesen und
unsre ganze menschliche Entwicklung vom sogenannten Naturzustande
bis zur höchsten Kaltur liegt in den Werken dieser Dichter beschlossen.

Es könnte aus den ersten Blick merkwürdig erscheinen, daß alle
diese Dichter, die eigentlichen und höchsten Vertreter der Mensch-
heit, ganz ausgeprägt national sind, nationaler als viele der von
uns „nationale Genien" genannten. Aber wer den Begrisf der
Nation als die notwendige Zwischenform zwischen Menschheit und
Jndividuum ersaßt hat, der wird sich darüber nicht wundern. So
gibt es in der Tat keinen besseren Griechen als Homer, keinen bessern
Jtaliener als Dante, keinen bessern Spanier als Cervantes, keinen
besscrn Engländer als Shakespere, keinen besscrn Dcutschen als
Gocthe, und es sind nicht etwa bloß die nationalen Lichtseiten bei
ihnen vorhanden, auch der nationale Schatten (ich erinnere an
Shakesperes Auffassung der Jungfrau von Orleans) sehlt nicht.
So ist denn auch Cervantes, dessen berühmtes Werk in diesen Tagen
dreihundert Jahre alt geworden ist und diese Betrachtung veranlaßt,
im Guten und im Bösen Spanier, ein Spanier des Zeitalters
Philipps II., der diesen bei uns verrufenen König in Wahrhcit für
groß hält, und der später den schwachen König Philipp III. zur

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