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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 18,2.1905

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Heft 18 (2. Juniheft 1905)
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Lose Blätter
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https://doi.org/10.11588/diglit.11879#0347

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dem Eindruck ebenbürtig, den ein erst noch halbwüchsiges Mädchen zu
weckeu vermag, ein Glück, das aus Erwartung erwächst, aus Teilnahme
an einer bevorstehenden Entfaltnng. Seine Einstandszeit, da er in der
Stellung eines Tagelöhners beim Spittelschreiber sein Dasein fristete, also
die ganzen Wintermonate bis ins Frühjahr, beseelte sich durch sein heim-
liches Hinüberblinzeln, durch die geizigen Blicke, die er der Jnsel zuwarf.
Damals hatte sie befangen dagelegen, stahlgrau umschlossen von der Wasser-
flut und leise überstreut von einem schüchtern Haftenden Anfluge Schnee.
Aber unter den Strahlen der Wintersonne schwebte es doch bereits über ihr
wie knospendes Lenzverlangen. Der kräftige Schimmer eines Ziegeldaches,
der nicht ganz verblaßte grünliche Schein der Mattenbestände und die licht-
verästeten hellbraunen Ränder des laublosen Gehölzes: — ein hoffender,
versprechender, und doch entrückter jungfräulich unberührter Anblick! Den
behielt er unverwandt vor den Augen, als der Winter strenger wurde und
mit seinen Schneemassen die Seeau zu einem kaum noch wahrnehmbaren
Streifen über den Wasserspiegel zusammendrückte. Es legte sich sogar eine
dünne Eisschicht bis hinüber, die wohl keinen Menschen trug, aber den steif-
gefrorenen Schnee sich gefallen ließ. Da verging die Seeau vor Hiesebs
Blick in der eintönigen, ununterbrochen sich dehnenden weißen Wüste der
Seefläche und des dahinter ansteigenden Geländes. Und dann vollends Nebel,
daß überhaupt nichts zu sehen war. Dann aber das gliederreckende Frühlings-
erwachen in feuchten, regenwarmen Taunächten, wenn das Eis sprang und
es aus der Ferne heraufgrollte durch die Finsternis. Hans hatte nicht schlafen
können, als er das hörte, hatte das Fenster aufgerissen, hatte den Vetter
Ambrosmen geweckt wie zu einem plötzlichen Unglück, der hatte ihm sagen
müssen, was es war. Und dann hatte er sich unters Fenster gelegt und
hinausgelauscht, daß er fast erfror. Mit Grausen dachte er noch lange an
die schrecklichen Donnerschläge, an dieses weithinschallende Gekrach, an diese
unheimlichen Ruftöne, wie von einem 'gewaltigen Horn. Er hatte einmal
den Uristier blasen hören — das war nichts gewesen dagegen.

Den ganzen wetterwendischen April hindurch hatte drüben die Seeau
kahl gestanden, oft schon unter lockenden Frühlingslichtern. „Will's denn
noch nicht blühen," dachte er, dem es in den Gliedern trieb und stieß und
saftete. Da eines Morgens früh in der ersten Maiwoche, als er vor's
Kloster trat, war es erlebt. Wie wenn in der Mitte eines silberblauen.
Riesenschildes aus rätselhafter Fügung eine überblühte Ackerscholle läge! —

Die Seeau ist weitaus das umfangreichste Eiland in einem schweize-
rischen Seebecken. Sie ist nicht berühmt geworden, wie die Ufenau durch den
Aufenthalt Huttens oder die Petersinsel durch den Rousseaus. Doch teilt
sie mit jenen die Eigenschaft, einer ganzen Umgegend ihre lieblichste Sehens-
würdigkeit zu bilden und wird nicht allein vom Landvolk, sondern gern
auch von fernabwohnenden Stadtleuten besucht. Dabei handelt es sich nicht
nur um neumodische Lustfahrten; Ueberreste uralter Volksgewohnheit haben
sich, des ursprünglichen Ernstes entkleidet, als harmlose Belustigungen fort-
gepflanzt, nur noch durch die Stätigkeit alljährlicher Wiederkehr und durch
turnerische Wettspiele an ihr ehrwürdiges Herkommen gemahnend. Viel-
leicht sind heidnische Frühlingsopfer die erste Veranlassung zu diesen regel-
mäßigen Zusammenkünften gewesen. Wasser einigt, und so mögen denn
schon die geschichtsfernen Uranwohner der beiden Uferränder sich mit form-
losen Einbäumen auf der Seeau Stelldichein gegeben haben, wär' es auch

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