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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 18,2.1905

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Heft 19 (1. Juliheft 1905)
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Lose Blätter
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https://doi.org/10.11588/diglit.11879#0408

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Vorderhand, ehe ich einen Bienenstock öffne, nm einen allgemeinen
Blick darauf zu werfen, mag es genügen zu wissen, daß er sich aus einer
Königin, der Mutter des ganzen Volkes, vielen tausend Arbeitsbienen, d. h.
unentwickelten und unfruchtbaren Weibchen, und einigen hundert männlichen
Bienen oder Drohnen zusammensetzt. Aus den letzteren geht der einzige un-
glückliche Auserwählte der künftigen Herrscherin hervor, welche die Bienen
nach dem mehr oder minder unfreiwilligen Scheiden der alten Königin auf
den Thron erheben. —

(Der Laie Pflegt zuerft einigermaßen enttäufcht zu sein, wenn man ihm
einen Einblick in einen Beobachtungskasten gewährt. Er hat erwartet in ein
wundersames Getriebe von Berechnung, Wissen und Gewerbefleiß zu schauen.)

Und nun erblickt er nur ein Gekribbel von rötlichen Beeren, die wie
geröstete Kaffeebohnen aussehen, oder wie Rosinen, die massenhaft an den
Scheiben sitzen. Sie scheinen mehr tot als lebendig und ihre Bewegungen sind
langsam, unzusammenhängend und unverständlich . . .

Es ist mit ihnen, wie mit allen tiesen Realitäten. Man muß sie be-
obachten lernen. Wenn ein Bewohner einer andren Welt aus die Erde
herabkäme und sähe, wie die Menschen durch die Straßen gehen, wie sie sich
um einzelne Gebäude scharen oder auf gewissen Plätzen zusammendrängen,
wie sie ohne auffällige Gebärden in ihren Wohnungen sitzen und harren, so
würde er auch zu dem Schlusse kommen, daß sie träge und bedauernswert sind.
Mit der Zeit erst beginnt man die vielseitige Tätigkeit, die in dieser Trägheit
liegt, zu erkennen.

Jn Wahrheit arbeitet jede dieser fast unbeweglichen kleinen Bienen
unermüdlich, und jede tut etwas andres. Keine kennt die Ruhe, und gerade
die z. B., welche scheinbar eingeschlafsn sind und wie leblose Trauben an den
Scheiben hängen, haben die geheimnisvollste und ermüdendste Arbeit zu ver-
richten, sie bereiten das Wachs. Aber wir werden auf diese Einzelheiten ihrer
streng geteilten Tätigkeit bald näher eingehen. Jnzwischen genügt es, die
Aufmerksamkeit auf den Hauptcharakterzug der Bienen zu lenken, durch den
sich das enge Beieinandersitzen in dieser mannigfachen Tätigkeit erklärt.
Die Biene ist vor allem und mehr noch als die Ameise ein Gesellschaftstier,
sie kann nur zu vielen leben. Wenn sie aus dem dichtbesetzten Stocke aus-
fliegt, so muß sie sich mit dem Kopfe einen Weg durch die lsbenden Mauern
bahnen, dis sis umschließen, und verläßt damit ihr eigentliches Element.
Sie taucht einen Augenblick in den blumenreichen Raum, wie der Schwimmer
in den perlenreichen Ozean, aber sie muß, wenn ihr das Leben lieb ist, von
Zeit zu Zeit wieder in den Dunstkreis ihrer Gefährtinnen zurück, wie der
Schwimmer wieder auftaucht, um Luft zu schöpfen. Bleibt sie allein, so
geht sie auch bei den günstigsten Temperaturverhältnissen und dem größten
Blumenreichtum iu wenigen Stunden zugrunde, nicht infolge von Hunger
oder Kälte, sondern von Einsamkeit. Die Menge ihrer Schwestern, der Bienen-
stock, ist für sie ein zwar unsichtbares, absr nicht weniger unentbehrliches
Nahrungsmittel als der Honig. Dieses Bedürfnis muß man sich gegenwärtig
halten, will man den Geist der Gesetze des Bienenstaates ersassen. Das
Jndividuum gilt im Bienenstock nichts, es hat nur ein Dasein aus zweiter
Hand, es ist gleichsam ein nebensächlicher Faktor, ein geflügeltes Organ der
Gattung. Sein ganzes Leben ist eine vollständige Aufopferung für das un-
zählige, beharrende Wesen, zu dem es gehört.

h Zuliheft lZ05 35t
 
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