Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 18,2.1905

DOI Heft:
Heft 20 (2. Juliheft 1905)
DOI Artikel:
Arend, Max: Paris und Helena von Gluck
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.11879#0467

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Gluck selbst wieder Veranlassung gehabt, nie hat es ein anderer als er,
bis zum „Tristan", vermocht, die entschleierte menschliche Seele mit
solcher Macht und Wahrheit sprechen zu lassen. Helena andrerseits
nimmt eine Entwicklung, deren Grenzpunkte noch größere Gegensätze
sind. Sie ist zunächst eine ziemlich rohe Spartanerin; man vergleiche
die Arie im zweiten Akte, sowie die Arie Nr. 20 im letzten Akte, die
Glnck, ein Lichtblitz zum Verständnis, als Kriegslied in das Finale
seiner „Jphigenia in Aulis" (Nr. 55) herübernahm. Aber im dritten
Akte singt sie ergreifend die Worte „Jch weiß nicht, wo ich bin,
nie hört ich solche Sprache, doch kann ich ihm nicht zürnen, Staunen
nur ergreift mein Herz!", Worte, die zugleich verraten, auf wie äußer-
licher Grundlage ihr Verlöbnis mit Menelaus beruht, und im letzten
Akte ist sie nach dem temperamentvollen Ausbruche der Arie Nr. 20
die verkörperte Hingebung; im Finale können sich die leidenschaftlichen,
in Terzen und Sexten lanfenden Melismen gar nicht genug tun.
Was nun die äußere Handlung anlangt, so ist sie mit großem
Geschick aufgebaut und gibt in fünf Abschnitten eine feine Gliede-
rung des Stosfes: Erster Akt: Exposition, Charakterisierung des
Paris und der Spartaner. Zweiter Akt: erste Begegnung der Lieben-
den, die den Unterschied zwischen ihnen und die Schwierigkeit der
Werbung des Paris in verzweiselter Deutlichkeit zeigt (ergreifende
Liebesklage des Paris am Schlusse des Aktes!). Dritter Akt: der
offizielle Empfang des Paris am Hofe der Königin, die prächtigen
Kampfspiele und hierauf des Paris dringendes Werben um Helena;
aber Helena ist erst betroffen, nicht gewonnen. Vierter Akt: die
innerliche Gewinnung der Helena, die äußerlich noch widerstrebt.
Fünster Akt: die Entscheidung, herbeigeführt durch den Streich
Amors, der Helena die angebliche Abreise des Paris vermeldet;
hierauf die majestätische, drohendc Erscheinung der Pallas, welche
die Sitte machtvoll vertritt, und die Einschiffung der Helena. Ge-
wiß, diese Handlung ist langweilig, entsetzlich langweilig für jeden,
der nicht dem folgen kann, worauf es Gluck allein ankommt, genau
so langweilig, wie es etwa der zweite und dritte Akt des „Tristan"
für den „süßen Theaterpöbel" ist. Diese Parallele zieht übrigens
ein Gegner von „Paris und Helena": Bulthaupt in seiner Dra-
maturgie der Oper. Bulthaupt hat auch die Liebesszene im zweiten
Akte und den Monolog des Tristan im dritten Akte als undramatisch
bezeichnet.

Sieht man, was Gluck hier getan hat, so wundert man sich
nicht mehr darüber, daß das einzige Werk (770 abgelehnt worden
ist: das Gegenteil wäre ein Wunder. Denn das visionäre Genie des
großen Tragikers eilte um ein Jahrhundert voraus: nach dem
„Tristan", der beinahe ein ähnliches Schicksal wie „Paris und
Helena" erfahren hätte, wäre das Werk vielleicht verstanden worden.

Stransky sagt, was an wahrhast schöner und edler Musik ent-
halten war, sei unversehrt geblieben. Gestrichen sind aber z. B. die
Paris-Arien Nr. 2, (0 und (7, also die ausgesucht schönsten, leiden-
schaftlichsten Gesänge. Paris wird so zum unedlen Abenteurer. Ge-
strichen sind die beiden Arien der Helena, die ihr Spartanertum
kennzeichnen (Nr. 9 und 20), aber auch die hingebenden und leiden-



2. Iulcheft (905

»0Z
 
Annotationen