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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 18,2.1905

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Heft 21 (1. Augustheft 1905)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.11879#0551

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keit und Seele. Dem geht der
Dichter nach, das zeigt er uns. Und
diese kleinen Leiden und Freuden
wirken deshalb nicht kleinlich, weil
das Herz eines rechten Menschen
in ihnen schlägt. Daß wir diesen
Schlag immer vernehmen, darin zeigt
sich die gute Kunst Siegfrieds. Es
gab eine Zeit, da wurde solch eine
Näherin in den Romanen besserer
Familienblätter biel verwandt. Wo-
möglich wurde sie zugleich in
aufregende Vorgänge gestellt. Der
Krieg von s870 war dafür sehr
beliebt. Da sah man denn die
Näherin tröstend, helfend als ein
wahrer Engel bei verlassenen Bräu-
ten, weinenden Müttern und gar
grimmig dreinschauenden Hausvätern
ab- und zugehn. Und überall wußte
sie zu helfen. War dann der Krieg
glücklich beendet, stand die be-
scheidene Näherin als Heldin neben
lauter Helden. Es war sehr rüh-
rend; leider auch sehr unwahr-
scheinlich. So ist Siegfrieds Gritli
glücklicherweise nicht. Bescheiden wie
ihre Verhältnisse ist auch ihr Ge-
dankenkreis, sind ihre Erlebnisse. Sie
stehn also in Harmonie. So ist
diese Geschichte auch rührend, aber
zugleich wahrhaftig, ein kleines,
seelenvolles Kunstwerk. Die zweite
Erzählung ist als ein gutes Gegen-
gewicht in einem derberen Ton ge-
halten und voll saftigen Humors.
Sie erzählt uns mit Vergnügen
von dem geizigen, reichen Bauern
Jakob, der sich schließlich doch ent-
schließt, ein großer Wohltäter seiner
Kantongenossen zu werden und auf
seine Kosten eine große und geräu-
mige Erziehungsanstalt zu bauen.
Die Begründung dieser erstaunlichen
Tat ist ausgezeichnet. Jch halte diesen
„Wohltäter" für eine der besten
Bauerngeschichten.

Den neuen Roman von Char-
lotte Niese: „Die Klabunkerstraße"
(Leipzig, Grunow) kann ich zwar

künstlerisch nicht so hoch stellen
wie die bisher genannten Bücher,
aber die Verfasserin so trefflicher
Skizzen und kleiner Erzählungen ver-
dient Beachtung, auch weun ihr
neues Werk nicht einwandfrei erscheint.
Als sein Hauptfehler gilt mir, daß
eine gewöhnliche Familienblatthand-
lung mit all ihren Unglaublichkeiten
dazu dienen muß, das Ganze zu-
sammen zu halten. Man bedauert
das umsomehr, als die Einzelheiten
wieder das darstellerische Talent von
Charlotte Niese beweisen. Fast alle
Menschen dieses Romans finden sich
von Zeit zu Zeit in Situationen,
die, teils leise humoristisch, teils ernst
gehalten, gute, anschauliche Bilder
vom Leben und Treiben nament-
lich kleinbürgerlicher Menschen geben;
neben ihnen erscheinen ein paar adelige
alte Stiftsdamen mit harmlosen, aber
sehr bezeichnenden Absonderlichkeiten.
Das gibt bunte Ausschnitte aus dem
Leben, wie sie diese Schriftstellerin
zu geben liebt und zu geben ver-
steht. Leider aber ist es ihr nicht
gelungen, die Handlung des Romans
sich aus der Natur ihrer Menschen
ergeben zu lassen. Die mit so viel
Liebe und Verständnis gezeichneten
kleinen Leute aus der Klabunker-
straße verbindet mit den andern
Leuten des Romans nur eine ihnen
von außen her auferlegte Liebes-
geschichte, wie sie iu reinen Unter-
haltungsromanen seit Jahrzehnten
übler Brauch ist. Das stört, ja
kränkt immer wieder, denn man
hat ein Recht darauf, besseres zu er-
warten. Ulax Groth

A Der unsterbliche Lindau?

„Friederike Kempner ist tot. Aber
unsterblich lebt ihr Geist in un-
zähligen Jüngern und Nachfolgern.
Unzählbar ist die Menge dieser
Jünger. Nur selten jedoch gelingt
es einem, in die Schrecken der
Oeffentlichkeit einzudringen und mit
teilzunehmen am allgemeinen Sän-

s. Augustheft lst05 48Z
 
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