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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 18,2.1905

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Heft 23 (1. Septemberheft 1905)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.11879#0667

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der Brief wird nicht erlassen, er
muß vor die Nachwelt, „da er alle
Punkte befaßt, die sür das be-
treffende Verhältnis in Betracht
kommen" . . .! Und hier nun hat
der erste Heransgeber des Tagebuchs
und Freund des Dichters jenes Mit-
tel gefunden, zu desfen Ruhm und
Preis ich diefen Auffatz fchreibe, und
das in seiner genialen Einfachheit
dem Mittel des Kolumbus gleicht,
ein Ei auf feine Spitze zu stellen:
er hat die acht und eine halbe

Seite ausgeschnitten und vernichtet!
Die gesamte deutsche Gelehrtenrepu-
blik heult vor Entsetzen auf: „nicht
weniger als acht und eine halbe

Seite", die niemals — niemals mehr
gedruckt werden können! Aber der
verständnisvolle Leser atmet erleich-
tert auf, und über den bewußten
Berg herüber klingt das sröhliche
Beifallsgelächter der Seligen, welche
sich auf die Knie klopsen vor Ent-
zücken darüber, daß der Schweins-
knöcherlsulze ein fo fetter Brocken ent-
geht, und wir alle, die wir das
Leben mehr lieben als die Wifsen-
schaft, scharen uns zufammen und
bringen eine Dankhekatombe und
rufen einander das erlösende Wort
zu: Wahrhastig und Gott sei Dank:
es braucht nicht alles gedruckt zu
werden!

Auch jene Erwiderung nicht, die
nunmehr unvermeidbar ist, daß auch
diefer Lobpreifungsartikel nicht ge-
druckt zu werden brauchte, der eine
wahrhaft Herostratische Tat feiert:
— acht und eine halbe Seite un-
gedruckt vernichtet! Vielmehr gibt es
gar uichts, was auf der jetzt er-
reichten Stufe der Kulturentwickluug
nötiger wäre als dies, daß zum Be-
wußtsein komme und von Enkeln zu
Enkeln nachgesagt fei:

Es braucht nicht alles gedruckt
zu werden.

Und nochmals wiederholen wir
das Wort, indem wir als letzten

Trumpf noch daran erinnern, daß
es ein Goethezitat ist:

„Es ist nichts nütze, daß
alles gedruckt werd e." Gr G

GJulius Stindef

Er gehörte zu denen, die ihren
Ersolg überleben. Als er vor zwei-
undzwanzig Jahren seine Frau Wil-
helmine Buchholz in die Welt sandte,
schien es den meisten so, als ob
das neugebackene reichshauptstädtische
Berlinertum künstlerische Gestalt und
Stimme bekommen hätte. Aaf dem
Paradetisch des Hauses lag ein
„Prachtwerk" von Allers, und den
neuesten Band von der Buchholzen
mußte man gelesen haben. Aber in
demselben Maße, in dem die Bände
der Buchholzen zunahmen, nahm die
Begeisterung für sie ab. Wer liest
Stinde heute noch? Und liest man
diesen oder jenen seiner Bände,
so fragt man sich jveiter: wie las
man sie damals und was las man
alles in sie hinein? Wir Berliner!
hieß es bei Stinde mit freund-
licher Selbstironie und leiser Selbst-
gefälligkeit. Wir Deutschen! Das war
schon deutlicher Brustton. Endlich
die Gegenständlichkeit, die Hausbacken-
heit des Stoffes, die so „gebildeten"
Perspektiven in die weite Welt vom
Familiensofa in der Landsberger
Straße aus — es hatte damals schon
seinen unterhaltlichen Reiz, selbst für
Leute wie Bismarck. Aber doch war
diese Berliner Kleinwelt im Grunde
nur photographisch gesehen, ebenso
wie Allers seinen Bismarck und seine
Meininger photographisch zeichnete.
Wie sehr dies Photographische bei
Stinde noch retouchiert war, zeigte
sich, als die Naturalisten ihre un-
gemilderten Ausblicke ins Berliner
Milieu eröffneten. Und vollends,
wenn ein echter Poet kam und eine
„Frau Jenny Treibel" schlicht und
still hinstellte —, wo blieb da die
brave Buchholzen? Was halfen ihr

j. Sexternberheft lA05 59t

Kilerarvi'
 
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