des Priesters eine Stimme, die sie zu kennen glaubte — eine Stimme, die
ihr über alles teuer war —, aber leise und dünn, wie Seufzen des Windes.
Und die Stimme sagte ihr: „Frage schnell, schnell, Mutter —, dunkel ist der
Weg und lang, und ich kann nicht länger säumen.
Und sie fragte zitternd: „Warum muß ich um mein Kind trauern?
Was ist die Gerechtigkeit der Götter?"
Und es kam die Antwort: „O Mutter, betrauere mich nicht also. Jch
starb nur, damit du nicht stirbst, denn das Jahr war ein Jahr der Seuche
und des Kummers, und ich wußte, daß du sterben solltest, und durch Gebet
wurde mir gewährt, an deiner Statt zu sterben. O Mutter, weine nicht
mehr um meinetwillen! Es ist nicht recht, um die Toten zu klagen; über den
Strom der Tränen sührt ihr lautloser Weg, und wenn Mütter weinen,
steigt die Flut, und die Seele kann nicht hinüber, sondern muß ruhelos
hin und her wandern.
Und deshalb bitte ich dich, gräme dich nicht, mein Mütterlein; gib
mir nur manchmal ein wenig Wasser."
*
Von dieser Stunde an sah man sie nie mehr weinen. Gelassen und
schweigsam erfüllte sie wie in früheren Tagen die frommen Pflichten einer
Tochter.
Die Zeit verging, und ihr Vater hatte im Sinn, ihr einen anderen
Gatten zu geben. Er sagte zu der Mutter: „Wenn unserer Tochter wieder
ein Sohn beschert würde, wäre es für sie und uns alle eine große Freude."
Aber die einsichtigere Mutter erwiderte: „Sie ist nicht unglücklich,
es ist ausgeschlossen, daß sie sich noch einmal vermählt, ist sie doch wie
ein kleines Kind geworden, das nichts von Sünde und Sorge weiß."
Es verhielt sich wirklich so, daß sie aufgehört hatte, Kummer zu
empfinden. Sie hatte angefangen, eine seltsame Liebe für ganz kleine Dinge
an den Tag zu legen. Es begann damit, daß sie ihr Bett zu groß fand,
vielleicht infolge des Gefühls der Leere, das durch den Verlust des Kindes
entstanden war. Nacht für Nacht, Tag um Tag erschienen ihr auch andere
Dinge zu groß: das Haus, die Wohnzimmer und die Nische mit ihren
großen Blumenvasen, ja selbst das Kochgeschirr. Sie wollte ihren Reis nur
aus einem winzigen Schüsselchen, mit Miniatureßstäbchen, wie sie Kinder
benutzen, essen. Jn diesen wie in anderen harmlosen Dingen ließ man
ihr ihren Willen, und sie hatte keine anderen Launen. Die alten Eltern
beratschlagten viel miteinander über sie. Endlich sagte der Vater: „Es
wäre sicherlich für unsere Tochter sehr peinlich, mit sremden Leuten zu leben,
und wir sind doch schon so bejahrt, daß wir sie bald verlassen müssem
Vielleicht wäre es das beste für sie, wenn wir sie zu einer Nonne machten.
Wir könnten ihr einen kleinen Tempel bauen."
Am nächsten Morgen sagte die Mutter zu O-Toyo: „Möchtest du nicht
eine heilige Nonne werden und in einem winzigen, winzigen Tempelcheu
mit einem sehr kleinen Altar und kleinen Buddhabildern wohnen? Wir würden
immer in deiner Nähe bleiben. Wenn es dir recht ist, werden wir uns
mit einem Priester besprechen, daß er dich die Sutras lehren soll."
O-Toho stimmte mit Freuden zu und bat, daß ein ausgesucht kleines
Nonnenkleid sür sie angefertigt werde. Doch die gute Mutter sagte: „Eine
gute Nonne darf alles klein haben, mit Ausnahme ihres Gewandes. Sie
muß eiu großes, weites Kleid haben, denn so gebietet der Meister Buddha."
626 Runstwart XVIII,
ihr über alles teuer war —, aber leise und dünn, wie Seufzen des Windes.
Und die Stimme sagte ihr: „Frage schnell, schnell, Mutter —, dunkel ist der
Weg und lang, und ich kann nicht länger säumen.
Und sie fragte zitternd: „Warum muß ich um mein Kind trauern?
Was ist die Gerechtigkeit der Götter?"
Und es kam die Antwort: „O Mutter, betrauere mich nicht also. Jch
starb nur, damit du nicht stirbst, denn das Jahr war ein Jahr der Seuche
und des Kummers, und ich wußte, daß du sterben solltest, und durch Gebet
wurde mir gewährt, an deiner Statt zu sterben. O Mutter, weine nicht
mehr um meinetwillen! Es ist nicht recht, um die Toten zu klagen; über den
Strom der Tränen sührt ihr lautloser Weg, und wenn Mütter weinen,
steigt die Flut, und die Seele kann nicht hinüber, sondern muß ruhelos
hin und her wandern.
Und deshalb bitte ich dich, gräme dich nicht, mein Mütterlein; gib
mir nur manchmal ein wenig Wasser."
*
Von dieser Stunde an sah man sie nie mehr weinen. Gelassen und
schweigsam erfüllte sie wie in früheren Tagen die frommen Pflichten einer
Tochter.
Die Zeit verging, und ihr Vater hatte im Sinn, ihr einen anderen
Gatten zu geben. Er sagte zu der Mutter: „Wenn unserer Tochter wieder
ein Sohn beschert würde, wäre es für sie und uns alle eine große Freude."
Aber die einsichtigere Mutter erwiderte: „Sie ist nicht unglücklich,
es ist ausgeschlossen, daß sie sich noch einmal vermählt, ist sie doch wie
ein kleines Kind geworden, das nichts von Sünde und Sorge weiß."
Es verhielt sich wirklich so, daß sie aufgehört hatte, Kummer zu
empfinden. Sie hatte angefangen, eine seltsame Liebe für ganz kleine Dinge
an den Tag zu legen. Es begann damit, daß sie ihr Bett zu groß fand,
vielleicht infolge des Gefühls der Leere, das durch den Verlust des Kindes
entstanden war. Nacht für Nacht, Tag um Tag erschienen ihr auch andere
Dinge zu groß: das Haus, die Wohnzimmer und die Nische mit ihren
großen Blumenvasen, ja selbst das Kochgeschirr. Sie wollte ihren Reis nur
aus einem winzigen Schüsselchen, mit Miniatureßstäbchen, wie sie Kinder
benutzen, essen. Jn diesen wie in anderen harmlosen Dingen ließ man
ihr ihren Willen, und sie hatte keine anderen Launen. Die alten Eltern
beratschlagten viel miteinander über sie. Endlich sagte der Vater: „Es
wäre sicherlich für unsere Tochter sehr peinlich, mit sremden Leuten zu leben,
und wir sind doch schon so bejahrt, daß wir sie bald verlassen müssem
Vielleicht wäre es das beste für sie, wenn wir sie zu einer Nonne machten.
Wir könnten ihr einen kleinen Tempel bauen."
Am nächsten Morgen sagte die Mutter zu O-Toyo: „Möchtest du nicht
eine heilige Nonne werden und in einem winzigen, winzigen Tempelcheu
mit einem sehr kleinen Altar und kleinen Buddhabildern wohnen? Wir würden
immer in deiner Nähe bleiben. Wenn es dir recht ist, werden wir uns
mit einem Priester besprechen, daß er dich die Sutras lehren soll."
O-Toho stimmte mit Freuden zu und bat, daß ein ausgesucht kleines
Nonnenkleid sür sie angefertigt werde. Doch die gute Mutter sagte: „Eine
gute Nonne darf alles klein haben, mit Ausnahme ihres Gewandes. Sie
muß eiu großes, weites Kleid haben, denn so gebietet der Meister Buddha."
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