3. Stück.
Lrscbetnt
Derausgeber:
zferdttland Lwenarius.
Kestellpreis:
Vierteljährlich 2t/z tNark.
4. Znbrg.
Geilie und T.eidenscliatt.
senie ist Leidenschaft, aber Leidenschaft ist
>nicht Genie. U)enn die leidenschaftliche
iverfassung des Gemüts den Menschen iil
chie Sxhäre des Genies erhöbe, wenn die
Gewalt der Affekte ihin die Genialität des schaffen-
den Rünstlers verliehe, alsdann wären jene beiden
identisch. Doch der Unterschied des einen von dem
anderen, dünkt mich, sei ohne Schwierigkeit zu er-
kennen — Shakespeare war ein Genie, aber tNark
Anton war ein j)rasser und ein Sklave seiner Lüste.
Das Mort also, Genie sei ^eidenschaft, enthält eine
Uebertreibung; man stellt das eine dem anderen
gleich, mn auszudrüeken, daß jenes ohne dieses nicht
bestehe. So ist es in der That: Leidenschaft vor allein ist
ein Aennzeichen des Genies. Doch kann damit nicht
jene Leidenschaft gemeint sein, welche der Ntehrzahl
der Alenschen eigen ist und seden nach der Art seines
Tharakters mit der bald schwächeren, bald stärkeren
Begierde erfüllt, die sAäne seines Thrgeizes zu ver-
wirklichen und seine manigfaltigen wünsche zum
Ziele zu führen. Die meisten Alenschen besitzen in
der einen oder anderen Beziehung Leidenschaft, aber
sie sind nicht leidenschaftlich; sie sind mannigfacher Leiden-
schaft fähig, aber ihr allgemeiner Zustand ist leiden-
schaftslos. Das ist es, was die geniale j)ersönlich-
keit des Aünstlers wesentlich von ihnen unterscheidet;
bei ihm ist die leidenschaftliche Derfassung des Genlüts
dauernd, seine Trregungsfähigkeit ist eine allgemeine.
Nicht zwar gilt dies in dem Sinne, daß den Aünstler
zu jeder Zeit eine leidenschaftliche Tmpffndung be-
wege, aber er besitzt eine Aufnahmefähigkeit, eine
Tmpfänglichkeit für das wesentliche der Dinge, die nur
dann aufhört, wenn eine natürliche Lrmüdnng die
Thätigkeit seiner Nerven lähmt. Auf den Rünstler
wirkt die Welt der Trscheinungen anders, als auf
den vorwiegend nach praktischen Zielen Gerichteten.
Tr führt ein inneres Leben, von dem der nüchterne
Mensch der Alltäglichkeit nichts ahnt, von dem selbst
der höher Gebildete, geistig Negsame sich nur eine
unvollkommene Dorstellung nlachen kann. Alles in
dein Rünstler, so lange er eben Aünstler ist, ist Tm-
pffndung, bedeutende Tinpffndnng. Seine innerste
Natur zwingt ihn, allenthalben von der Oberfläche
der Trscheinnngen in die Tiefe derselben zu dringen;
das Mesentliche der Dinge, ihr Seelenvolles, das
sie zuin Gegenstande seiner Aunst erhebt, er sieht es,
weil er es sehen muß. Darin ruht die ^eidenschaft
seines Genies, daß alles Bedeutende bedeutend auf
ihn wirkt, daß alle Schönheit der Natur, aller Schmerz
und alle ^nst des Daseins seine einpfängliche Seele
in ihrer Tiefe bewegt und ihre Aräfte zu einem
schier nnendlichen !tebensgefühl vereinigt.
So ist es offenbar, daß der allgemeine Zustand
des Genies ein leidenschaftlicher ist; seine Tinpfäng-
lichkeit schafft ihm Leiden, versetzt es in jene leiden-
schaftliche Derfafsung, ohne die es nicht wäre, was
es ist. Aber noch ein anderes konnnt hinzu, was
das Genie erst zuin Genie macht. Zene allgemeine
Tmpfänglichkeit, die in so hohem Grade dem Aünstler
eigen ist, ffndet sich, wenngleich in geringerem Grade,
auch bei solchen, die blos den Namen von Liebhabern
der schönen Aünste verdienen. Zhnen fehlt zum
ttünstler die Araft die Dinge der realen Melt zu
meistern, ffe zu objektiviren und darzustellen. Die
Lmpfänglichkeit ist das Trste, aber die Fähigkeit das
Tmpfangene wiederzugeben, der Schritt von der
Tmpfängnis zur Geburt, ist das Zweite. Dier scheitern
die meisten völlig, wenigen nur gelingt der Schritt
znm Teil und selbst das Genie vollendet die Gebär-
nng unter Schmerzen.
Der Weg von der Nealität der Dinge znr Zdea-
lität derselben, von der wirklichkeit zu ihrer geläuterten
F--
Lrstes Oovemberbett tSSO.
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Lrscbetnt
Derausgeber:
zferdttland Lwenarius.
Kestellpreis:
Vierteljährlich 2t/z tNark.
4. Znbrg.
Geilie und T.eidenscliatt.
senie ist Leidenschaft, aber Leidenschaft ist
>nicht Genie. U)enn die leidenschaftliche
iverfassung des Gemüts den Menschen iil
chie Sxhäre des Genies erhöbe, wenn die
Gewalt der Affekte ihin die Genialität des schaffen-
den Rünstlers verliehe, alsdann wären jene beiden
identisch. Doch der Unterschied des einen von dem
anderen, dünkt mich, sei ohne Schwierigkeit zu er-
kennen — Shakespeare war ein Genie, aber tNark
Anton war ein j)rasser und ein Sklave seiner Lüste.
Das Mort also, Genie sei ^eidenschaft, enthält eine
Uebertreibung; man stellt das eine dem anderen
gleich, mn auszudrüeken, daß jenes ohne dieses nicht
bestehe. So ist es in der That: Leidenschaft vor allein ist
ein Aennzeichen des Genies. Doch kann damit nicht
jene Leidenschaft gemeint sein, welche der Ntehrzahl
der Alenschen eigen ist und seden nach der Art seines
Tharakters mit der bald schwächeren, bald stärkeren
Begierde erfüllt, die sAäne seines Thrgeizes zu ver-
wirklichen und seine manigfaltigen wünsche zum
Ziele zu führen. Die meisten Alenschen besitzen in
der einen oder anderen Beziehung Leidenschaft, aber
sie sind nicht leidenschaftlich; sie sind mannigfacher Leiden-
schaft fähig, aber ihr allgemeiner Zustand ist leiden-
schaftslos. Das ist es, was die geniale j)ersönlich-
keit des Aünstlers wesentlich von ihnen unterscheidet;
bei ihm ist die leidenschaftliche Derfassung des Genlüts
dauernd, seine Trregungsfähigkeit ist eine allgemeine.
Nicht zwar gilt dies in dem Sinne, daß den Aünstler
zu jeder Zeit eine leidenschaftliche Tmpffndung be-
wege, aber er besitzt eine Aufnahmefähigkeit, eine
Tmpfänglichkeit für das wesentliche der Dinge, die nur
dann aufhört, wenn eine natürliche Lrmüdnng die
Thätigkeit seiner Nerven lähmt. Auf den Rünstler
wirkt die Welt der Trscheinungen anders, als auf
den vorwiegend nach praktischen Zielen Gerichteten.
Tr führt ein inneres Leben, von dem der nüchterne
Mensch der Alltäglichkeit nichts ahnt, von dem selbst
der höher Gebildete, geistig Negsame sich nur eine
unvollkommene Dorstellung nlachen kann. Alles in
dein Rünstler, so lange er eben Aünstler ist, ist Tm-
pffndung, bedeutende Tinpffndnng. Seine innerste
Natur zwingt ihn, allenthalben von der Oberfläche
der Trscheinnngen in die Tiefe derselben zu dringen;
das Mesentliche der Dinge, ihr Seelenvolles, das
sie zuin Gegenstande seiner Aunst erhebt, er sieht es,
weil er es sehen muß. Darin ruht die ^eidenschaft
seines Genies, daß alles Bedeutende bedeutend auf
ihn wirkt, daß alle Schönheit der Natur, aller Schmerz
und alle ^nst des Daseins seine einpfängliche Seele
in ihrer Tiefe bewegt und ihre Aräfte zu einem
schier nnendlichen !tebensgefühl vereinigt.
So ist es offenbar, daß der allgemeine Zustand
des Genies ein leidenschaftlicher ist; seine Tinpfäng-
lichkeit schafft ihm Leiden, versetzt es in jene leiden-
schaftliche Derfafsung, ohne die es nicht wäre, was
es ist. Aber noch ein anderes konnnt hinzu, was
das Genie erst zuin Genie macht. Zene allgemeine
Tmpfänglichkeit, die in so hohem Grade dem Aünstler
eigen ist, ffndet sich, wenngleich in geringerem Grade,
auch bei solchen, die blos den Namen von Liebhabern
der schönen Aünste verdienen. Zhnen fehlt zum
ttünstler die Araft die Dinge der realen Melt zu
meistern, ffe zu objektiviren und darzustellen. Die
Lmpfänglichkeit ist das Trste, aber die Fähigkeit das
Tmpfangene wiederzugeben, der Schritt von der
Tmpfängnis zur Geburt, ist das Zweite. Dier scheitern
die meisten völlig, wenigen nur gelingt der Schritt
znm Teil und selbst das Genie vollendet die Gebär-
nng unter Schmerzen.
Der Weg von der Nealität der Dinge znr Zdea-
lität derselben, von der wirklichkeit zu ihrer geläuterten
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Lrstes Oovemberbett tSSO.
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