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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 4.1890-1891

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Heft 17 (1. Juniheft 1891)
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Grottewitz, Curt: Die wissenschaftliche Methode in der modernen Dichtung
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.11725#0266

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sondern wie Musiker durch gleichsain zu Melodien
verbundene chandlungs-Akkorde in unser Gefübl über-
gehen lassen.

Daß die Form der neuen Dichtung trotzdein von
dersenigen der alten weise abweichen wird, ist selbst-
verständlich. Nur sollte inan unter keinen Uinständen
den Znhalt der Forin anpassen, sondern sollte für den
neuen Iichalt die entsxrechende Lorin suchen. Sehr
viel Gutes werden dabei sxrachgewandte Dichter
thun können, die der neuen chache, die sie darstellen,
auch einen neuen, sxrachlich genau deekenden Ausdruek
zu geben wissen. Dann wird auch die xedantische
Ukanier der seitenlangen ^childerung und Neschreibung

wegfallen — ein echtes Zeichen einer Übergangs-
dichtung, welche die Dinge noch nicht mit einein
einzigcn wort sprachlich zu fassen vermag, und so
^ätze, Appofftionen, Lpitheta usw. verwenden muß,
um die sprachliche üerrschaft über die betreffende
Sache zu erlangen. Man kann schon jetzt die
Neobachtung machen, daß viele neue Bezeichnungen
in unsere Literatur eingedrungen sind. Gs werden
deren immer mehr eindringen und in immer schnellerer
Folge, sobald die Dichter sich ihres Nechtes und ihrer
sdflicht bewußt werden, für neue Dinge — und die
moderne wissenschaft hat sa so viel Neues gebracht
— den entsprechenden Ausdrnck sprachlich zu schaffen.

'lkurt Grottewirz.

Allaemetneres. NUNdS 6!) klU.

^ ^Deutscbe uud truuzöstsebe Ikuust" ist

ein Aufsatz überschrieben, den jdaul Marsop in
der „Gegenwart" (tc) bringt.

„war Lessing ein Ghauvinist?

Gin Franzose, welcher geneigt ist, in jeder Abwehr
einen versteckten Angriff zu wittern, in jedem Nersuche
eines Nicht-Franzosen, sich von gallischer Denkweise
frei zu machen, einen Nückfall in die Barbarei zu
sehen, würde ohne viel Bedenken mit «Za» antworten.
Nnd die Norkampfer der «Nloderne» in Deutschland,
die Leute mit den zerrütteten Nerven, die Nachbeter
der Zola und Nlanet dürften kauin lange zögern,
diesein Za ihr Amen anzufügen. 2llso gebietet es die
internationale Döflichkeit, also vermeidet man den
Schein, bei auswärtigen s?rivatfreunden für einen
schwerfälligen deutschen s?hilister zu gelten, also will
es schließlich die liebe, alte Gewohnheit, alles, was
von jenseits der Dogesen kommt, mit besonderer Der-
ehrung aufzunehmen. Frankreich wird fich niemals
einen zuverlässigeren Alliirten gewinnen als diese
«deutsche» Gewohnheit.

Gs steht nun allerdings einem Zeden frei, der
Nleinung des Franzosen und des Galb-Franzosen über
den Nerfasser der Gamburgischen Drainaturgie bei-
zupflichten. Auf der anderen Seite jedoch inöchte
vielleicht das internationale, allen Nienschen ange-
borene Gerechtigkeitsgefühl bescheidentlich dafür ein-
treten, auch die Nfeinung derjenigen zu hören, welche
sich auf einen ausgesprochen teutonischen Standpunkt
stellen — wozu, nebenbei bemerkt, ein wenig inehr
Nüit gehört, als um mit derfranzösisch-kosmopolitischen
Nbodeströmung des Tages zu schwiminen.

Gs war für ^essing keineswegs die höchste Ge-
nugthung, den Franzosen Lins, oder bei guter Gelegen-
heit auch ein Niehreres versetzen zu können; vielmehr
wurde er durchaus von dem sachlichen Bestreben ge-
leitet, nachzuweisen, daß die von den Franzosen auf-
gestellten Nunstregeln Angriffspunkte in chülle und
Fülle böten und um so weniger für andere Nationen
maßgebend sein könnten, als selbige Nunstregeln da-
durch ausgebildet worden seien, daß die Lranzosen
nichtfranzösische, griechisch-klassische und shakespearesche
Nnnst mißverstanden. Lessing hat, bei aller 2lner-
kennung der besonderen künstlerischen Veranlagung der
Franzosen, die tiefe, die ungeheure Nluft
zwifchen romanischem und germanischem
Nunstemp fi nd en aufgedeckt; er hat nachgewiesen,

daß die Besonderheit der Geistesfrüchte, welche ein
Land zeitige, durch Boden, Nlima und individuelle
jdflege bedingt sei. Aber er war weit entfernt da-
von, den Franzosen einen Vorwurf daraus zu machen,
daß die Natur ihnen nicht alles Grdenkliche zu Geil
werden ließ; wußte er doch, daß auch die Freigebig-
keit, nüt welcher sie uns Deutsche ausstattete, ihre
Grenzen hatte. Gr unterschlug weder eiue gute
Gigenschaft der Franzosen, noch ging er darauf aus,
einen dem Deutschen mangelnden Vorzug demselben
anzudichten. Gr that nichts anderes, als daß er die
Bilder des Deutschen und des Franzosen, zu greif-
barer Deutlichkeit ausgeführt und frei von allem zu-
fälligen Nram des Tages, einander gegenüberstellte;
beide erhielten gleiches Licht. Seht, sagte er: der
eine muß zu chhakespeares Banner schwören der
andere kann es nicht, selbst wenn er wollte.

Nun bleibt, unseres Grachtens, den Geutigen, so-
fern sie nicht selbst ^essinge sind, nichts übrig, als
dem großen Nteister nachzueifern, wenn es gilt, Nlar-
heit in eine Runstfrage zu bringen — selbst auf die
Gefahr hin, den Vorwurf des Autoritätsglaubens auf
sich zu ziehen, mit welchem die Nkodernen Zedein
gegenüber, der sich dem wahrhaft Bedeutenden pietät-
voll unterwirft, so eilfertig bei der k^and find. chollte
jedoch hierauf eingewendet werden, daß unsere Zeit
nicht diejenige Lessings und daß man inzwischen in
der allgemeinen NLenschenverbrüderung allzu weit
vorgeschritten sei, um sich in der Meise der uner-
bittlich strengen, vor keiner Nonsequenz zurückschrecken-
den Lesfingschen Analpse zu versuchen, so wäre dem
entgegen zu halten, daß, wenn man die Art des
streitbaren Lessing bereits als veraltet ansehen würde,
man insgleichen auch über die des friedfertigen, die
des «Nathan», zur Tagesordnung übergehen könne.
Das wollen jedoch die Teutoneu ebenso wenig wie
die Anti - Teutonen. Deshalb werden die Letzteren
sich wohl oder übel darauf einzulassen haben, auch
mit der Niethode Lessing aus der schärferen Tonart
zu rechnen, zum mindestens aber fich damit abffnden
müfsen, daß die Tinen ffch an dem Ntusterbeispiel
nationaler Nritik, an dem eines Lesffng, ebenso nach
Rräften heranzubilden bemühen, wie die 2lnderen
an dem einer kosmopoltischen, an dem des «Tourrier
cie ?uri8».

Zndessen sind wir, gerade als ^essingianer, sehr
gern bereit zuzugeben, daß eine chinesische Nlauer

— 2öS —
 
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