Allgemeineres.
^ DLe DersönlicbkeLt in der Ilrunst. (5>chluß.)
In der Malerei ist es ebenso! Zu viel Gedächt-
nis, zn wenig Lmpfindung, und nnsre Museen hängen
voll von Nenaissance-Bildern.
Dasselbe Leidwesen endlich in der Dichtunst, die
am stärksten, erbanlichsten wirken könnte, weil sie nur
des gedruckten wortes bedarf. Aber die Lpigonen
von heute getrauen sich nicht, über die Schatten
Goethes, Schillers, Lessings wegznspringen. Gs wird
ihnen leichter, ja gewährt ihnen größere Freude, der
Gegenwart und einer absehbaren Zukunft die Mög-
lichkeit einer neuen Literaturblüte abzuspreclien, als
daß sie liebevoll die Aeime des werdens pflegen
sollten.
Nun ist sreilich dennoch der Bann dieses kalten
akademischen wesens seit einigen Zahren gebrochen.
Ls geht ein Sturm durch die abgestorbenen Gefilde
der deutschen Runst, und Alle, die es mit dem vater-
lande gnt meinen, können nur hosfen, daß dieser
Sturm den Frühling bedeuten möge. Die Schassen-
den haben sich zunächst emporgerafst und suchen nun
auch die Annstempfindnng des j)nblikums in ihre
Bahn zn leiten. viel Schulwesen macht sich leider
hier gleich wieder breit, viel Nachahmung auch von
ansländischen Rünstlern, aber es läßt sich doch nicht
verkennen, daß dieser Stnrm und Drang im Wesent-
lichen eine Nevolution der jDersönlichkeit gegen das
Aonventionelle, gegen den kalten Nerstandesbegriff in
jeder Form bedeutet. Damit streckt die neue Be-
wegung ihre wnrzeln in den Boden, aus dem, wenn
sonst das Schicksal uns gnädig ist, etwas Gntes sür
die Runst erwachsen kan n. Schreitet nnr die Negung
für das Necht des j)ersönlichen, welche sich auch auf
anderen Gebieten schon merken läßt, wachsend fort,
und erkennt nur erst das deutsche j)ubliknm, daß auch
für seine jDersönlichkeit gestritten wird in diesem
Nampfe, den die Nunst jetzt kämpft, ^o ist mir um
den gährenden Nkost nicht bange, mag er sich auch
wirklich jetzt vielfach absurd gebärden. Allen, die sich
über Linzelerscheinungen in diesem Rampf und Streben
entrüsten und in schnellem Lntschlnß gleich der ganzen
Bewegung den Nücken kehren, möchte ich zurufen:
Warum so unwirsch? Glaubt Zhr, daß Goethe und
^chiller gleich fix und fertig einbalsamirt wnrden
zur gefälligen verehrnng für die dankbare Nachwelt?
wollt Zhr für Luch die freie j)ersönlichkeit, glaubt
Ihr, daß wir in unserer Gesamtentwickelung einen
^chritt vorwärts kämen, wenn wir wieder persönlicher
würden, so lernt vor allem die jDersönlichkeit der
Andern dulden! Das ist das Lrste, Unerläßliche
— sonst bleibt nns nnr Ghinesentum!
Und so könnte ich diesen Teil meiner Aussührnngen
schließen, wenn es mich nicht drängte, eine wichtige
Spezialfrage unserer künftigen Literaturentwickelnng
etwas anders zu beleuchten, als es bisher in diesen
Blättern geschehen ist. An Literatur-Doktoren fehlt
es nns ja nicht; sie^wollen alle der armen Rranken
aufhelfen und verschreiben Zeder ein anderes Nezept.
Zu den verständigeren rechne ich Diejenigen, welche
die Dichter von den Zndividual-j)roblemen abbringen
nnd auf die Micht breiter volkstümlicher oder nationaler
wirkung verweisen möchten. Das Ziel ist richtig
und gut; wie jede andere j)ersönlichkeit mnß auch
Illundscbnu.
der Dichter znächst in feiner Nation nnd für die-
selbe wirken, und erst wenn so der Fluß die wellen
des Baches weiter trägt, gelangen sie schließlich
wohl auch ins Nleer des internationalen verkehrs.
Aber ein großer Zrrtnm ist bei diesem wunsche zn
vermeiden nnd leider bisher nicht vermieden worden.
Nicht jedes Lntwicklungsstadinm einer Nation ist voll-
wertig genug, daß ein Dichter im bloßen Abbilden
der Zustände seinen Beruf erfüllen könnte; denn der
wahre Dichter ist nicht nur Abbildner und Herzens-
kündiger, sondern vor allem auch geistiger Führer
und vorempfinder seines Volkes. Line Nation, die
wie die unsrige in ihrem gegenwärtigen Zustande
der Bureaukratie und dem Gelehrtentnm zu Liebe
so viele Züge ihres xersönlichen wesens hat ver-
blassen und verwelken lassen, die ihres wesentlichen
Besitzes so wenig selbst bewußt ist, die überdies durch
die soziale Frage und ständisches Nleingetriebe so zer-
klüftet wird, daß kaum noch der große Boden ge-
meinsamer Gmpfindnng aus dem siebziger Nriege Be-
sitzende und Nichtbesitzende vor gegenseitiger Tnt-
sremdung bewahrt — eine solche Nation bietet gar
nicht den Untergrnnd für volkspoesie im gewöhnlichen
Sinne des wortes. wohl aber können Dichter
unsrer Nation zur Zeit einen guten, notwendigen und
eines Tages vielleicht auch mit volkstümlicher An-
erkennung belohnten Dienst leisten, wenn sie die
Brücken schlagen helfen zur inneren verständigung
der getrennten volksgenossen. Besser jedenfalls dehnt
man die Niöglichkeit volkstümlicher wirkung auf diese
weise ans, als daß man den Begriff in die über-
kommene literaturgeschichtliche Schablone preßt und
dann wohl gar zu dem ^chlnß gelangt, daß, da
populäre wirknngen auf das gesamte volk kaum
möglich sind, man höchstes Lob spenden müsse, wenn
ein Schriftsteller mit photographischer Treue Oertlich-
keits- nnd Wenschencharaktere seiner engeren Lseimat
oder eines ihm vertraut gewordenen engeren Bezirkes
trifft. Anf diese weise gehört dann schließlich Zulius
Stinde zu den großen Dichtern, weil es ihm gelungen
ist, Berliner j)hilistergeist gerade so nüchtern-humoristisch
und genau so trivial abzubilden, wie er etwa durch-
gängig sein mag. Diese Art, den dichterischen wert
zu messen, ist heute fast allgemein im ^chwunge; ich
weiß eigentlich nicht, mit welchem Rechte, denn das
muß doch wohl jeder dieser ästhetischen Geometer
merken, daß die größten Dichter, mit solchen Majoritäts-
ellen gemessen, traurig unvolkstümlich würden. Fühlt
sich doch die kompakte Nlasse selbst Goethe und
Schiller genüber zuweilen zur Nichterin erkoren; man
kann dann gelegenllich hören: «Za, eigentlich populär
ist Goethe doch nie gewesen und heutigen Tages
noch nicht geworden; Schiller schon eher!» Man
sieht, dieser j)fad führt nnweigerlich in die breite
Tbene des Banausentums hinab. wir müssen des-
halb die Mahnung zu nationaler Dichtnng sehr vor-
sichtig erfassen, um nicht ganz zu verirren. Nicht
der Dichter schafft im richtigen Sinne national, der
seiner Zeit photographisch treue Spiegelbilder der
Nkenschen, Zustände und Stimmungen vorhält, sondern
der, der seines Volkes j)ersönlichkeit in ihren Tiefen
und Höhen mit seiner eigenen, dichterischen j)ersönlich-
keit verkörpert, der in seinen Schöpfnngen den volks-
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