NundscliAU
DLcbtung.
* über „Alltags--Voesie" schreibt M. Fsarden
in der „Nation". „Rousseau hat irgendwo gesagt: „II
68t ires-difücile cle peuser uodleureut, quaucl ou ue
peuse que pour vivre". Die ganze große Literatur
des Nlitleideus ist über die wahrheit dieses knappeu
Satzes uicht hiuausgekouuueu; so lauge uud so oft sie
uus wiederholt, wie iin harteu Naiupf ums Daseiu
die Seeleu verroheu uud die Freiheit der Geister
verküuuuert, wie iu uiedrigeu Stubeu die Lhrbegrifse
kläglich verkrüppelu, daß am Lude Niemaud mehr au
die Möglichkeit eiuer rileisteruug des Alilieus durch deu
Nleuscheu glauben mochte. NlanLiug vou der scheiu-
bar sichereu Lrkenntuis aus, die umgebeudeu Ver-
hältuisse bestimmteu das Iudividuum; wer uuedel
dachte uud fühlte, der schob die verautwortuug aus
die §Iebensbediuguugeu ab uud sühlte sich iu be-
quemem Stolz als eiu Nlärtyrer der sozialeu Grdnuug.
Dieser Determiuismuszog uus herab uud er schus iu allen
Läuderu, die sich ihm öffueteu, jeue halbkiudisch revo-
lutiouireude Auklageliteratur, iu dereu Zeicheu wir
heute stehen uud die eiuen uicht allzu ferueu Gesell-
schastskrach zu verküudeu scheiut. Zugleich kam, uud
es wäre iuteressaut, dem Zusammeuhaug uachzuspüreu,
die Abkehr vou der Selbsthilfe empor uud die wirt-
schaftliche Staatsreligion. Die beherrscheuden verhält-
uisse müsseu von Gruud aus geäudert werdeu, und
da der Liuzelue uichts dazu vermag, so muß die
Gesamtheit, die Gesellschaft, der Staat das Allheil-
mittel lieferu: das ist der Zuhalt uuzähliger sozialer
Nomaue uud Drameu. Ls ist gauz reizeud bequem,
vom Schreibtisch aus die IVelt zu reformireuj uud
auf literarische Muacksalberei ist ia zum Glück keiue
Strafe gestellt.
Nur briugeu folche schuell hiugekritzelte Nezepte
die Nleuschheit uicht um deu kleiusteu Schritt vorwärts.
U)er vou außeu die Nettuug erwartet, der pflegt die
^äude müßig iu deu Schoß zu legeu, uud uoch zu
alleu Zeiteu hat erst die iu der Oberschicht sich fest-
uisteude Überzeuguug vou der Uuhaltbarkeit der Zu-
stäude dem Umsturz deu Bodeu bereitet. Deu Geist
des Zweifels, der Uuzufriedeuheit erregt uud im Be-
steheudeu uach hohleu Stelleu sucht, kouute Buckle als
den jdiouier der fortschreiteuden Zivilsatiou preiseu;
sobald aber der Determiuismus sich iu das dogmati-
sche Gewaud eiues ueumodischeu Schicksalsglaubeus
kleidet, kanu er die Arteutwickluug uur uoch hemmen,
die Ivilleuskraft lähmeu uud seiue Bekeuuer iu eiuen
uihilistischeu Gleichgiltigkeitszustaud hiuüberschlummeru
lassen, aus dem es ohue eiue Gxplosiou keiu Grwacheu
gibt. Gleich eiuer Lokomotive kauu der Zweifel vor-
wärts führeu; die Verzweiffuug stampft und schuaubt
auf eiuem Lleck, bis sie müde wird uud sich iu Nir-
waua aufs Ghr legt.
Zumitteu solcher aus Lebeusuukeuutuis hervor-
gegaugeueu Literateuresiguatiou muß mau sich jeder
j)ersönlichkeit doppelt freueu, die iu mutigem Niugeu
die verhältuisse zwiugt uud sich selbst durchsetzt, aus
eigener Nraft. Ls ist sehr schwer, aber es ist uicht
uiunöglich, cle peu^er uoblemeut, <quuucl ou ue peu3e
que pour vivre. Die Gramfalten freilich bleibeu uud
eiu Rest von Bitterkeit uud Nlelaucholie, deuu die
^triemeu der Seele verheileu nicht rasch; der große
wolfgaug wäre uicht der heitere Glympier geworden,
hätte uicht des kleiueu wolfgaugs wiege iu eiuem
luftigeu patrizierhause gestauden. Auf dem Gruude
des ueumodischeu Gutrüstuugspessimismus spürt eiu
schärfer zublickeudes Auge uicht selteu gauz persöuliches
Nlißgeschick, gauz persöuliche Not uud verärgeruug,
etwas wie augelitteueu Nulturhaß, wie er uur zu
leicht dem geweckt wird, der durch trübe Schsibeu
iu gläuzeude Wohuräume hiueiustarrt, etwas vom
stumpfeu Vorurteil des Nleiustädters gegeu das üppige
Treibeu iu großeu Verkehrszeutreu. Aber wie die
welt uuu eiumal ist, uuvollkommen uud auf deu
Wettbewerb riugeuder Nräfte gestellt, ist eiue Bessexuug
dieser aus dem Tiuzelueu schwer lasteudeu Verhältuisse
auch vou der Zukuuftsgesellschaft uicht zu erhoffeu,
iu der es uach Bebel keiue Nüustler uud Gelehrte vou
professiou, aber «um so zahlreichere aus Begeisteluug,
durch Taleut uud Geuie» gebeu wird, deren Leistuugeu
dauu vou der <Beurteiluug uuparteiischer Sachver-
stäudiger» abhäugeu werden. Der schmerzlichste, aber
auch stärkste Nlotor: der Nlaugel wird dauu entferut
seiu, uud die Nüustler, Gelehrteu uud Literateu, die ja
doch ihreu Teil au der Gesellschaftsarbeit verrichteu
müsseu, werdeu uur uach Leieräbeud dichteu, deukeu
uud schreibeu dürfeu. Das wird eiue köstliche Zeit,
die keiue Not keuut uud keiue Armut, uur freie uud
frohe Adelsmeuscheu, die beim Nlauge reiu gestimmter
Zitheru wouuige Feste feieru. Nud diese Zeit wird
der Alltagspoesie von heute, deu Liederu vom webeu
uud Näheu, vom bchmgeru uud b^asteu, uur uoch
historischeu wert beimesseu, als deu Dokumeuteu eiuer
läugst überwuudeueu Tpoche kapitalistischer Ausbeutuug.
Lür uus, die wir iu die utopische Glückseligkeit
erst hiueiuwachseu solleu, habeu diese Dichtuugeu eiue
audere Bedeutuug. Uus siud sie, abgeseheu vou ihrem
poetischeu Gehalt, Dokumeute über die meuschliche
Natur, die wir, immer beschäftigt mit eigeuem Trwerb
üud Besitz, iu ihrer uueudlicheu Vielfältigkeit so selteu
durchdriugeu lerueu. wie wird eiu Nleusch; wie
schleift und feilt ihu das Lebeu ab; wie setzt er sich
durch; es gibt uicht iuteressautere Frageu. Darum
hat für deu tiefer driugeuden Leser so oft der Autor
deu Vorraug vor seiuem werk; darum verwünscht er
tauseudmal die aus uuküustlerischen Theorieu stammeude
Objektivität uud sehut sich uach einem heißeu, uuerzogeu
subjektiveu Nlenscheu. Nud darum eudlich begrüßeu
wir als eiue wahrhaft moderue, weil sie dem Nlenscheu-
erkeuutuisdraug iu uus eutgegeukommt, die Literatur,
die uicht abeuteuerliche Geschehuiss», uicht iuteressaute
Fälle uud Auomalieu uus briugt, ^sondern etat8 chüiue,
Napitel aus der Geschichte des Nleuschwerdeus.
wie eiu rechter Tragödieuheld vou des Aristoteles
Guadeu muß solch eiu moderuer Dichter uus Nlitleid
uud Furcht eiuffößen könueu. Seiue Zudividualität
darf uicht außerhalb uuserer Begriffssphäre liegeu,
seiu Geschick müsseu wir, für uns selbst fürchteud,
mitempffudeu köuueu; er darf uicht eiue zufällige
Nlißbildung, keiu Neutaur uud keiu Guom seiu.
Freilich, die verschiedeue seelische Vermögeuslage läßt,
und zum Glück, eiue Tiuheit im Geuießeu uicht auf-
kommeu; was der Liue uuter zuckeudeu ^chmerzeu
erlebt uud also erworben hat, mutet deu Audereu
fabelhaft an und verzwickt, ausgeklügelt, wie ein künst-
lich bereitetes, auatomisches j)räparat höchstens. Die
244
DLcbtung.
* über „Alltags--Voesie" schreibt M. Fsarden
in der „Nation". „Rousseau hat irgendwo gesagt: „II
68t ires-difücile cle peuser uodleureut, quaucl ou ue
peuse que pour vivre". Die ganze große Literatur
des Nlitleideus ist über die wahrheit dieses knappeu
Satzes uicht hiuausgekouuueu; so lauge uud so oft sie
uus wiederholt, wie iin harteu Naiupf ums Daseiu
die Seeleu verroheu uud die Freiheit der Geister
verküuuuert, wie iu uiedrigeu Stubeu die Lhrbegrifse
kläglich verkrüppelu, daß am Lude Niemaud mehr au
die Möglichkeit eiuer rileisteruug des Alilieus durch deu
Nleuscheu glauben mochte. NlanLiug vou der scheiu-
bar sichereu Lrkenntuis aus, die umgebeudeu Ver-
hältuisse bestimmteu das Iudividuum; wer uuedel
dachte uud fühlte, der schob die verautwortuug aus
die §Iebensbediuguugeu ab uud sühlte sich iu be-
quemem Stolz als eiu Nlärtyrer der sozialeu Grdnuug.
Dieser Determiuismuszog uus herab uud er schus iu allen
Läuderu, die sich ihm öffueteu, jeue halbkiudisch revo-
lutiouireude Auklageliteratur, iu dereu Zeicheu wir
heute stehen uud die eiuen uicht allzu ferueu Gesell-
schastskrach zu verküudeu scheiut. Zugleich kam, uud
es wäre iuteressaut, dem Zusammeuhaug uachzuspüreu,
die Abkehr vou der Selbsthilfe empor uud die wirt-
schaftliche Staatsreligion. Die beherrscheuden verhält-
uisse müsseu von Gruud aus geäudert werdeu, und
da der Liuzelue uichts dazu vermag, so muß die
Gesamtheit, die Gesellschaft, der Staat das Allheil-
mittel lieferu: das ist der Zuhalt uuzähliger sozialer
Nomaue uud Drameu. Ls ist gauz reizeud bequem,
vom Schreibtisch aus die IVelt zu reformireuj uud
auf literarische Muacksalberei ist ia zum Glück keiue
Strafe gestellt.
Nur briugeu folche schuell hiugekritzelte Nezepte
die Nleuschheit uicht um deu kleiusteu Schritt vorwärts.
U)er vou außeu die Nettuug erwartet, der pflegt die
^äude müßig iu deu Schoß zu legeu, uud uoch zu
alleu Zeiteu hat erst die iu der Oberschicht sich fest-
uisteude Überzeuguug vou der Uuhaltbarkeit der Zu-
stäude dem Umsturz deu Bodeu bereitet. Deu Geist
des Zweifels, der Uuzufriedeuheit erregt uud im Be-
steheudeu uach hohleu Stelleu sucht, kouute Buckle als
den jdiouier der fortschreiteuden Zivilsatiou preiseu;
sobald aber der Determiuismus sich iu das dogmati-
sche Gewaud eiues ueumodischeu Schicksalsglaubeus
kleidet, kanu er die Arteutwickluug uur uoch hemmen,
die Ivilleuskraft lähmeu uud seiue Bekeuuer iu eiuen
uihilistischeu Gleichgiltigkeitszustaud hiuüberschlummeru
lassen, aus dem es ohue eiue Gxplosiou keiu Grwacheu
gibt. Gleich eiuer Lokomotive kauu der Zweifel vor-
wärts führeu; die Verzweiffuug stampft und schuaubt
auf eiuem Lleck, bis sie müde wird uud sich iu Nir-
waua aufs Ghr legt.
Zumitteu solcher aus Lebeusuukeuutuis hervor-
gegaugeueu Literateuresiguatiou muß mau sich jeder
j)ersönlichkeit doppelt freueu, die iu mutigem Niugeu
die verhältuisse zwiugt uud sich selbst durchsetzt, aus
eigener Nraft. Ls ist sehr schwer, aber es ist uicht
uiunöglich, cle peu^er uoblemeut, <quuucl ou ue peu3e
que pour vivre. Die Gramfalten freilich bleibeu uud
eiu Rest von Bitterkeit uud Nlelaucholie, deuu die
^triemeu der Seele verheileu nicht rasch; der große
wolfgaug wäre uicht der heitere Glympier geworden,
hätte uicht des kleiueu wolfgaugs wiege iu eiuem
luftigeu patrizierhause gestauden. Auf dem Gruude
des ueumodischeu Gutrüstuugspessimismus spürt eiu
schärfer zublickeudes Auge uicht selteu gauz persöuliches
Nlißgeschick, gauz persöuliche Not uud verärgeruug,
etwas wie augelitteueu Nulturhaß, wie er uur zu
leicht dem geweckt wird, der durch trübe Schsibeu
iu gläuzeude Wohuräume hiueiustarrt, etwas vom
stumpfeu Vorurteil des Nleiustädters gegeu das üppige
Treibeu iu großeu Verkehrszeutreu. Aber wie die
welt uuu eiumal ist, uuvollkommen uud auf deu
Wettbewerb riugeuder Nräfte gestellt, ist eiue Bessexuug
dieser aus dem Tiuzelueu schwer lasteudeu Verhältuisse
auch vou der Zukuuftsgesellschaft uicht zu erhoffeu,
iu der es uach Bebel keiue Nüustler uud Gelehrte vou
professiou, aber «um so zahlreichere aus Begeisteluug,
durch Taleut uud Geuie» gebeu wird, deren Leistuugeu
dauu vou der <Beurteiluug uuparteiischer Sachver-
stäudiger» abhäugeu werden. Der schmerzlichste, aber
auch stärkste Nlotor: der Nlaugel wird dauu entferut
seiu, uud die Nüustler, Gelehrteu uud Literateu, die ja
doch ihreu Teil au der Gesellschaftsarbeit verrichteu
müsseu, werdeu uur uach Leieräbeud dichteu, deukeu
uud schreibeu dürfeu. Das wird eiue köstliche Zeit,
die keiue Not keuut uud keiue Armut, uur freie uud
frohe Adelsmeuscheu, die beim Nlauge reiu gestimmter
Zitheru wouuige Feste feieru. Nud diese Zeit wird
der Alltagspoesie von heute, deu Liederu vom webeu
uud Näheu, vom bchmgeru uud b^asteu, uur uoch
historischeu wert beimesseu, als deu Dokumeuteu eiuer
läugst überwuudeueu Tpoche kapitalistischer Ausbeutuug.
Lür uus, die wir iu die utopische Glückseligkeit
erst hiueiuwachseu solleu, habeu diese Dichtuugeu eiue
audere Bedeutuug. Uus siud sie, abgeseheu vou ihrem
poetischeu Gehalt, Dokumeute über die meuschliche
Natur, die wir, immer beschäftigt mit eigeuem Trwerb
üud Besitz, iu ihrer uueudlicheu Vielfältigkeit so selteu
durchdriugeu lerueu. wie wird eiu Nleusch; wie
schleift und feilt ihu das Lebeu ab; wie setzt er sich
durch; es gibt uicht iuteressautere Frageu. Darum
hat für deu tiefer driugeuden Leser so oft der Autor
deu Vorraug vor seiuem werk; darum verwünscht er
tauseudmal die aus uuküustlerischen Theorieu stammeude
Objektivität uud sehut sich uach einem heißeu, uuerzogeu
subjektiveu Nlenscheu. Nud darum eudlich begrüßeu
wir als eiue wahrhaft moderue, weil sie dem Nlenscheu-
erkeuutuisdraug iu uus eutgegeukommt, die Literatur,
die uicht abeuteuerliche Geschehuiss», uicht iuteressaute
Fälle uud Auomalieu uus briugt, ^sondern etat8 chüiue,
Napitel aus der Geschichte des Nleuschwerdeus.
wie eiu rechter Tragödieuheld vou des Aristoteles
Guadeu muß solch eiu moderuer Dichter uus Nlitleid
uud Furcht eiuffößen könueu. Seiue Zudividualität
darf uicht außerhalb uuserer Begriffssphäre liegeu,
seiu Geschick müsseu wir, für uns selbst fürchteud,
mitempffudeu köuueu; er darf uicht eiue zufällige
Nlißbildung, keiu Neutaur uud keiu Guom seiu.
Freilich, die verschiedeue seelische Vermögeuslage läßt,
und zum Glück, eiue Tiuheit im Geuießeu uicht auf-
kommeu; was der Liue uuter zuckeudeu ^chmerzeu
erlebt uud also erworben hat, mutet deu Audereu
fabelhaft an und verzwickt, ausgeklügelt, wie ein künst-
lich bereitetes, auatomisches j)räparat höchstens. Die
244