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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 4.1890-1891

DOI issue:
Heft 19 (1. Juliheft 1891)
DOI article:
Dresdner, Albert: Das Dritte Drama
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https://doi.org/10.11588/diglit.11725#0296

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Lrstes Zuli-Dett tSSt.

19. Stück.

Lrscbetnt

Derrlusgeber:

zferdinand Avenarius.

Kesrellprets:

vierteljährlich 2>/z Mark. ^

Zabrg.

Das dritte Druina

^A^Z^HMlan hat für den sittlich-künstlerischen Inhalt
?es europäischen Drainas auf den beiden
Lsöhepunkten seiner bisherigen Lntwickel-
ung die Forineln gefunden: Schicksals-
tragödie und Dharaktertragödie. Treffend und bündig
erklärt Lsettner, es solle damit bezeichnet werden, daß
in der modernen Tragödie jeder seines Glückes Schmied
ist und durch seinen tragischen Nntergang nur seine
eigene freie und verantwortliche Schuld büßt, daß da-
gegen in der antiken Tragödie der böeld, wenn auch nicht
frei von Schuld, doch wesentlich zugleich das willen-
lose Spiel der über ihin waltenden Schicksalsnot-
wendigkeit ist. IVenn die bfoffnung, zu der viele
schwerwiegende Gründe leiten, nicht unberechtigt ish
daß die große, augenblicklich noch wirre Bewegung,
die gegenwärtig durch die Literatnr flnteh zu einer
neuen Blüte der drainatischen Aunst führen, daß neben
jene beiden Typen ein drittes Drama, das nioderne
Drama treten werde:, so wird es eine hochbedeutende,
in gewisseni Sinne sogar die oberste Lrage, welches
der sittlich-künstlerische Inhalt dieses neuen Dranias
sein, wie sein Verhältnis zu jenen beiden j?olen der
draniatischen Bewegung sich gestalten werde.

Da ist denn wohl die verbreitetste Meinung, daß
wir zu der Shakespeareschen Tharaktertragödie zurück-
kehren und von ihr ansgehen niüssen. Und unzweifel-
haft: wenn auch in unserer Zeit die rein aus sich
gestellte und nur aus sich heraus handelnde persön-
lichkeit nicht dieselbe beherrschende Rolle spielt, wie
etwa in der Ära der Königin Tlisabeth, so wird doch
die dramatische bkunst ein starkes Bewußtsein sittlicher
Freiheit und Verantwortlichkeit nicht entbehren können
in einer Zeit, deren gesaniter politischer Zustand aus
jahrzehntelangen blänipsen nni staatsbürgerliche Lrei-
heit, d. h. uni ein vernünftiges Blaß sreier Beweg-
nngssähigkeit des Tinzelnen bernht. Ani wenigsten

in Deutschland, deni alten Llande des Zndividualisnius,
dessen nioderne Bildung denn auch ganz entsprechend
aus vorwiegend geschichtlicher Grnndlage und niithin
aus deni Gedanken des Zlnerkenntnisses und Verständ-
nisses jeder j)ersönlichkeit beruht, — in Deutschland,
wo der Zndividualisnius jetzt wieder mächtig den
Aops hebt: dessen ist der Lrsolg von „Nenibrandt
als Trzieher" Beweis.

Gehen wir nun aber darum einsach einer Tr-
neuernng des ^hakespeareschen Tharakterdranias ent-
gegen? Die geschichtliche Trscheinung tritt in ihrer
Besonderheit und Bedingtheit nur einnial ins Leben,
und sie zuni zweiten Bkale erwecken zu wollen, ist
innner in irgend einer weise künstlich. Darum kann
nian geradezu entgegensetzen: entweder ist die einsache
Miederbelebung der Shakespeareschen Tragödie das
Ziel oder wir streben aus eine neue Blüte des Dranias
hin. Daß aber die thatsächliche Tntwickelung der
ersten dieser beiden Aböglichkeiten znwiderläuft, bewsist
der Vergleich eines Shakespeareschen Alusterstückes, etwa
Bichards des Dritten, niit einer niodernen draniatischen
lllrbeit; ich wähle Björnsons „Leonarda", weil sie inir
als das vielleicht geschlossenste Bühnenwerk erscheint,
das die nioderne Runst bisher erzeugt hat. Bichard
der Dritte vergeht sich, vergeht sich ans deni sreien
wollen seines Tharakters („ich bin gewillt, ein
Bösewicht zu werden"), vergeht sich gegen die allge-
nieine und als schlechthin giltig angenoniniene Sitt-
lichkeit: heucheln und niorden uni der Trwerbung und
Festhaltung einer Aönigskrone willen ist einsach ver-
werflich. Daruin geht er zu Grnnde. Leonarda ver-
geht sich eigentlich überhaupt nicht, sie ist beileibe
nicht schlecht, ist vielniehr sittlich sreier und größer,
als die erdrückende Mehrzahl der Menschen, und
dennoch geht auch sie — draniatisch genominen —
unter. An der sittlichen Weltordnung und durch sie,




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