zuzuführen, auch rückwärts müssen wir unsern Blick
schweifen lassen, ob etwa vergrabene Schätze der
Auffindung harren. Über die hervorragende Bedeutung
Grillparzers und Naimunds für die dramatische
Dichtung unseres Iahrhunderts besteht wohl nirgends
mehr ein Zweifel; der seelenvolle Zug senes wie die
symbolische Gestaltungskrast dieses eignen sich gerade
sür eine vornehme, stimmungsvolle Bühne am besten,
— aber noch hat die Hosbühne Reichshauptstadt
die Ehrenschuld nicht eingelöst, die beiden österreichischen
Stammverwandten im Norden heimisch zu machen.
N)as Wunder jedoch kann diese vernachläsfigung
nehmen, wenn selbst der preußischste Dramatiker ksein-
rich von Rleist mit Brocken abgefunden wird?
Lsier sollten versuche unternommen und wiederholt
werden: setzt man doch Geld und Nlühe an wertlosere
Gxperimente, -— und es giebt Niederlagen und Halb-
Lrfolge, die ehrenvoller sind, als manche äußerlichen
Siege!
Das letzte und wuchtigste wort über die Lückeii
des deutschen Bühnenrepertoires ist mit alledem noch
nicht gesprochen. Line Neihe von Nleisterwerken des
größten deutschen Dichters liegen noch ganz oder teil-
weise ungenutzt. Das königliche Schauspielhaus in
Berlin hat den zweiten Teil von Goethes „Faust"
bis heute nicht sür sich erobert; eine seiner ernstesten
Michten besteht in dieser Znszenirung, die, wenn nicht
lückenlos, so doch wenigstens nach der leidlich voll-
ständigen, am Dresdener üoftheater trefflich bewährten
Bearbeitung von Wollheim-Nlarcks geschehen könnte,
unter Überflügelung der fragmentarischen Darstellung
in L'Arronges „Deutschem Theater". Ts scheint noch
mehr, als es für die geistige Neife unseres volkes
gut ist, die Ansicht verbreitet, daß damit ein unsrucht-
barer Heroenkultus getrieben wäre; man weiß heute
in weiten, auch gebildeten Nreisen des deutschen
Volkes noch nicht, was man an Goethe hat und wie
insbesondere der zweite Teil seines „Faust" in ge-
wissem Sinne die Summe seines wesens und wirkens
als seiner „weisheit letzten Schluß" bietet. weist
doch der Dichter hier prophetisch sein volk in das
thätige, sozialpolitische Leben hinaus, zu welchem wir
thatsächlich erwacht sind.
Zndessen viele Unterlassungssünden gegen Goethe
sind ganz allgemein. wir brauchen deutsche Lust-
spiele, wir brauchen politische Dramen — und doch
ignoriren wir mit unbegreislicher üartnäckigkeit ^
umfangreiche einschlägige Thätigkeit unseres größten
Dichters. Nein Zweifel, daß in dieser Zurückhaltung
noch Nachwirkungen der politischen Vervehmung
Goethes durch das sunge Deutschland stecken. wir
sollten heute doch wahrhastig zum Lzerauswachsen aus
der j)arteiphrase politisch reif genug sein; namentlich
sollten wir wissen, daß sich eines nicht für alle schickt,
und so sollten wir anerkennen, daß ein Goethe das
Necht hat, Beurteilung nach den Gesetzen seines
eigenen Organismus, seiner eigenen geistigen Struktur
zu fordern. wie dem nun sei und wie man auch
Goethes politische Stellungnahme beurteilen will —
es bedeutet nicht weniger als in permanenz erklärten
politischen s)arteisanatismus, wenn sich unsere Bühnen
noch länger der Aufsührung und dauernden Ausrecht-
erhaltung der „Natürlichen Tochter", des „Bürger-
generals" und der — sei es vervollständigten,
sei es nach vorliegender Form zur Aussührung
immerhin schon genügend in sich geschlossenen
„Aufgeregten" entziehen; vielleicht finden sich selbst
die großen Bühnenkünstler, welche sähig sind,
den „Groß-Rophta" wirksam darzustellen. Gerade
zur rechten Zeit würden sie heuer ausgegraben: auch
heute thut es not, unbekümmert um das Geschrei der
Dohlen dem politischen Biedermeiertum den Spiegel
vorzuhalten und der Bierbankpolitik die große ge-
schichtliche Auffassung gegenüberzustellen.
wenn man den heillosen Unverstand sieht und
hört, mit welchem heute diesen Dramen begegnet
wird, so kann es nicht wunder nehmen, daß der
Dichter von weiterer Aussührung des hier Ange-
sponnenen als einem hofsnungslosen Unternehmen
abstand. Doch ist es unzweiselhaft, daß namentlich
„die natürliche Tochter" schon nach der Skizze der
Fortsetzung zu schließen, eine dramatische Trilogie von
politischer Rühnheit und geschichtlicher Größe geworden
wäre, wie sie als solche selbst in Goethes werken
einzig dastand. Doch auch der erste Teil allein
bietet ein in sich sertiges, bedeutsames Drama, welches
die seelenvolle Sprache einer „Zphigenia" mit der
politischen Aktualität des Stosfes vereint.
<Line erfrischende Bereicherung unseres so überaus
spärlichen Lustspielrepertoires böten die beiden andern
genannten Stücke. Ntan spielt ebenso wenig wie
Goethe leichtsertig mit wuchtig umgestaltenden Lreig-
nissen, wie der sranzösischen Nevolution, wenn man
sich über die kannegießernde wichtigthuerei des
sdhilistertums, das seinerseits vielmehr mit den großen
Lreignissen kleinlich spielt, im „Bürgergeneral" recht
weidlich amüsirt. Und gar „Die Ausgeregten", mit
dem Lnkel von Holbergs politischem Nannegießer als
Lselden, geben eine vielseitige, gewiß würdige Be-
handlung des Zwiespaltes zwischen den Ständen,
wenn auch nicht eine schematische „Problem-Lösung".
Sollte es nicht möglich sein, ^olbergs „s)olitischen
Nannegießer" selbst aus unserer Bühne zu beleben,
so wird die Darstellung dieses von Goethe mit Grund
so genannten „politischen Dramas" zu doppelter Not-
wendigkeit.
Doch genug der bsinweise, der Norschläge, der
Ausmunterungen. Genug, wenn auch nur die bsälfte
aus sruchtbaren Boden fällt. Genug, wenn man
sich zuständigerseits, und sei es auch auf anderen wegen,
wieder zu dem Streben verpslichtet fühlt, dem deutschen
volke ein Nationaltheater zu erringen. Lugen Mlolkk.
AUgemeineres.
Illundscbuu.
* „Dle Nldoderne" heißt eine neue Zeitschrist,
und über „die Nloderne" schreibt darin bseinrich
bsart den ersten Aussatz, der in „einer vorläufigen
Betrachtung" doch, scheint es, das j)rogramm eines
jungen Schriststellergeschlechts andeuten soll. wir
schreiben keine kritischen Randglossen dazu, sondern
legen ihn einsach zu den Zeit-Akten, die unsere Nund-
schau ja zu sanuneln hat.
<S
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