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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 4.1890-1891

DOI issue:
Heft 16 (2. Maiheft 1891)
DOI article:
Unding, Fritz: Gotik und Renaissance
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https://doi.org/10.11588/diglit.11725#0248

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L«'eiles lwkii-Defl lSSl.

16. Ltück.

Lrscbcint

Deiausgeber:

zferdinand N^ennrius.

Kestcllprcis:

Oierteljährlich 2l/z Mark. 4»

Gotik und Ikenmssance

^M»L^^.eun der Mensch der Gegeuwart bisweileu
im stolzeu ^iublick aus das, was uuser
Iahrbuudert geleistet, übermütig wird uud
im Gefühl des „Mie hat mau's doch so
herrlich weit gebracht!" wähut, deu Gipsel der Meusch-
heitseutwickluug beiuahe erklommeu zu habeu, dauu
braucht er uur eiueu Blick auf die moderue Laukuust zu
werfeu — er wird sich demütig au die Brust schlageu uud
eiuseheu, daß wir uur iu eiuer Übergaugsepoche lebeu. Biele
versuche, viel Reime, viel Neues, aber auch viel ver-
schrobeues, viel uoch uicht Ausgereiftes; der Rampf
ums Daseiu hat hier oft uoch uicht die Spreu vom
Meizeu gesondert, uoch steheu sich herbe Gegeusätze
gegenüber, noch kämpfeu Parteieu auf Lebeu uud Tod,
noch glüht uuter der Asche auch der Haß zwischeu
Gotik uud Neuaissance. Uud wo die Stammelteru
im Streite liegen, wie kann mau da erwarteu, daß die
Sprößliuge uugestört gedeiheu uud zu ueuem Lebeu
reifen?

Dieser Gegeusatz zwischeu Gotik und Neuaissanee
ist ja schou alt. Ls scheint, als weuu immer uur
eiue der beiden Stilarteu uubediugt zu beherrscheu
vermöchte, uud ohue weiteres hat bis jetzt die eiue
im ästhetischen Bauu gelegeu, wo die audere sich deu
^chauplatz erruugen hatte. Gauz allgemein galt
„gotisch" als gleichbedeutendmit „barbarisch", bis Frauz
Rugler den Umschwung zur teutonischen Begeisterung
für alles Gotische durch seine Runstgeschichte einleitete.
Und wie diese stürmische, romantische Begeisterung
allmählich verrauchte, da nanute der geuiale vor-
kämpfer der Nenaissance, Gottfried Semper, seinerseits
wieder die Gotik „die lapidarische Übertragung der
scholastischen s)hilosophie des zwölfteu und dreizehuten
Iahrhunderts" und stellte jene Neugoten auf dieselbe
Stufe mit der partei, „die den ausgearteten Gesuiten-
stil erfand, gegen den sie jetzt zu Felde zieht." Seitdem

ist der Uöluer Dom uuter dem weihevollen j)ubel der
ganzeu Nation volleudet wordeu uud eiu s)arlameuts-
gebäude im Neuaissaucestil begouneu, — aber der
alte Rampf hat uicht aufgehört. Noch im Iahre t889
kouute uuter audern der Müuchuer j)rofessor Or. 5epp
iu eiuer Schrift, die sich au eiue Broschüre für die
figürliche Ausschmückuug der Thüreu des Röluer
Domes kuüpft, die Neuaissauce eiue „uuverschämte
Diebin" schelteu: „Ihr Nopfputz ist aufgedonuert, aber
sie trägt küustliches üaar . . . , ihr Lsalsschmuck ist vou
Talmigold, die üaut geschmiukt, der Buseu dekolletirt",
uud mit Niukel rust er voll Tutrüstuug aus: „Lsäreu
wir lieber mit Baueu gauz auf," weuu wir im
Neuaissaucestil baueu sollen. Und das ist keineswegs
alleiusteheude Ausuahme; ähulich, wie er, wenn auch
uicht in solchen kräftigen Ausdrücken, hören wir
Neicheusperger eisern, ähnlich haudelt der Direktor
des Germauischeu Museums, von Tsseuweiu, weuu er
iu deu echteu Neuaissaucepalast des Nüruberger
Nathauses eiueu uugeschmiukt-gotischeu Neubau hiueiu
stellt.

Das ist eiue Lrscheiuuug iu uusrer tolerauteu Zeit,
die wohl der Beachtnug wert ist, und billig drängt
sich uus die Frage auf: was veranlaßt dieseu küust-
lerischen Fanatismus, welche Gesichtspunkte führen zu
diesem uubediugt feiudlichen Gegensatz der beiden
Stilformen?

Ts ist ein altes Mort, daß man überall, wo in
Deutschlaud eiue uuerklärliche Leideuschaftlichkeit auf-
tritt, zuerst die Frage aufwerfen muß: kanu hier etwas
wie eine politische cg.u8L moveu8 im Spiele seiu?
Uud wirklich, etwas ähnliches kauu mau unschwer bei
deu leideuschaftlicheu Gotikern im üintergrunde als
treibende Nraft entdeckeu. 5ie sprechen von eiuem
„Nevanchekrieg Fraukreichs auf dem Gebiete der
Renaissance-Bauten," sie preiseu die Gotik als religiös


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