DOI issue:
Heft 7 (Aprilheft 1930)
DOI article:Ullmann, Hermann: Die geistige Krise der europäischen Politik
DOI Page / Citation link:https://doi.org/10.11588/diglit.8888#0058
setzen der Massenpsychologie immer leichter, Massen auf Verneinungen zu
sammeln als auf Positionen. Der Mißerfolg ßellt sich in dem Augenblick
ein, da die gesammelten Massen für cine posikive 2lufgabe eingeseht werden
sollen. Da versagen Phantasie und Gestaltungskrafk völlig, und die Phrase
tritt eine hemmungslose Herrfchaft an. Aus Mangel an zukunftgeftaltender
Phantasie und an Kraft, an dcn eigentlichen großen Feind, an deu äußeren
Gegner heranzukommeu, wird die AuseinandcrseHung mit dem nächften
Nvchbarn gesucht, aus Mangel an vorwärtstragender Jlnfchauuug um dic
doktrinäre Nuance geftrikten. Und so werden zahllose, oft sehr werkvolle
Kräfte verbraucht, ohne daß ein Ergebnis crzielk wird, das diesem Kräftever-
brauch entspräche. Jm Rahmen des Gesamtlcbens der Nation hat, objektiv
gesehen, diese seelifche Haltung insofern eine gewisse Funktion, als ohne sic
jene andere Art von Illusionismus, der sein Hcil sucht in dcr Schutzvorftel-
lung: „es wird so fchlimm fchon nicht werdcn" geradezu allciu herrfchcu
könnte. Aber sclbft im TLiderspicl gcgen diesen (fpäker noch uäher zu be-
trachkcnden) pazififtifchen Illusionismus ift der reaktionäre Illusionis-
mus nicht imßande, positiv im Sinne cincr Gcsundnng nnd neuen Autorikäts-
bildung zu wirken.
Ihm hat es die deutfche Rechte zu danrcn, daß sie in diesen zehn Iahren ohne
objektive Wirkung geblieben ift.
Am äußerßen entgegcngeseHten Ende fteht dem deutfchen reaktionären Illu-
sionismus in Deukfchland und anderswo dcr liberal-demokratische,
pazifijtische gegennber, der verfchicdenen Antrieben seine Eriftenz ver-
dankt.
Er hat eine echte weltanfchauliche Wurzel, die ihm zugrundeliegcndcn Ideen
beherrfchen Wefteuropa. Es sind dic der individualiftifchen Demokratie. Uns
geht hier vor allcm die politifch-praktifche Anwendung dieser Ideen im Krieg
und Nachkrieg an. Diese Ideen wurden planmäßig gegen die europäifcheu
Zentralmächte als Kriegsmittel aufgcbotcn. Um dcm gemeinsanicn Gegcnsah
gegen Deutfchland, dcr die im ubrigen so weit auscinanderftrcbendeu Intercssen
dcr Verbündeten im Kriegc nnd Nachkrieg einte, cine ideologifche Begründung
zu geben, wurde ein „neues Europa" als Kampfzicl bczeichnet. Man findck
diese Ideologie nirgends naivcr und dahcr auffchlußrcicher zusammengcftellt, als
in den Büchern des Lfchechifchen Professors Masaryk, der mit Hilfe dieser
Ideologie die leitenden Männer dcr Verbündctcn von dcr Notwendigkeit
seines spezififch tfchcchifchen Kricgszielcs: der Bcfrciung der „kleinen Bölker"
Ofteuropas, überzcugke und damit den tjchechifchen Staat gründete. Seine
„Philosophie" ift cine späte Form der Aufklärung, ein ins Polikifche ge-
wendetcr Rationalismus. „Demokratie gegen Theokratie." „Das Selbft-
beftiinmungsrecht der Nationen ergibt sich aus deni sittlichen Wcrte des
Humanitäksprinzips". „Die Nation ift eine Kulturorganisation", eiue „dcmo-
kratifche Qrganisation". Ihr fteht der Staat als „ariftokratifche", „thco-
kratifche", „Zwangsmittel anwendende, unkerdrückende Organisakion" gegen-
über. Die wefteuropäifchen Staakcn sind frcilich anders aufgebauk: der cng-
lifche hat sich, nach Masaryks Meinung, „am meiften dem Ideal dcr Huma-
nität genähert". Die wefteuropäifchen Staaten sind nach seiner Meinung
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sammeln als auf Positionen. Der Mißerfolg ßellt sich in dem Augenblick
ein, da die gesammelten Massen für cine posikive 2lufgabe eingeseht werden
sollen. Da versagen Phantasie und Gestaltungskrafk völlig, und die Phrase
tritt eine hemmungslose Herrfchaft an. Aus Mangel an zukunftgeftaltender
Phantasie und an Kraft, an dcn eigentlichen großen Feind, an deu äußeren
Gegner heranzukommeu, wird die AuseinandcrseHung mit dem nächften
Nvchbarn gesucht, aus Mangel an vorwärtstragender Jlnfchauuug um dic
doktrinäre Nuance geftrikten. Und so werden zahllose, oft sehr werkvolle
Kräfte verbraucht, ohne daß ein Ergebnis crzielk wird, das diesem Kräftever-
brauch entspräche. Jm Rahmen des Gesamtlcbens der Nation hat, objektiv
gesehen, diese seelifche Haltung insofern eine gewisse Funktion, als ohne sic
jene andere Art von Illusionismus, der sein Hcil sucht in dcr Schutzvorftel-
lung: „es wird so fchlimm fchon nicht werdcn" geradezu allciu herrfchcu
könnte. Aber sclbft im TLiderspicl gcgen diesen (fpäker noch uäher zu be-
trachkcnden) pazififtifchen Illusionismus ift der reaktionäre Illusionis-
mus nicht imßande, positiv im Sinne cincr Gcsundnng nnd neuen Autorikäts-
bildung zu wirken.
Ihm hat es die deutfche Rechte zu danrcn, daß sie in diesen zehn Iahren ohne
objektive Wirkung geblieben ift.
Am äußerßen entgegcngeseHten Ende fteht dem deutfchen reaktionären Illu-
sionismus in Deukfchland und anderswo dcr liberal-demokratische,
pazifijtische gegennber, der verfchicdenen Antrieben seine Eriftenz ver-
dankt.
Er hat eine echte weltanfchauliche Wurzel, die ihm zugrundeliegcndcn Ideen
beherrfchen Wefteuropa. Es sind dic der individualiftifchen Demokratie. Uns
geht hier vor allcm die politifch-praktifche Anwendung dieser Ideen im Krieg
und Nachkrieg an. Diese Ideen wurden planmäßig gegen die europäifcheu
Zentralmächte als Kriegsmittel aufgcbotcn. Um dcm gemeinsanicn Gegcnsah
gegen Deutfchland, dcr die im ubrigen so weit auscinanderftrcbendeu Intercssen
dcr Verbündeten im Kriegc nnd Nachkrieg einte, cine ideologifche Begründung
zu geben, wurde ein „neues Europa" als Kampfzicl bczeichnet. Man findck
diese Ideologie nirgends naivcr und dahcr auffchlußrcicher zusammengcftellt, als
in den Büchern des Lfchechifchen Professors Masaryk, der mit Hilfe dieser
Ideologie die leitenden Männer dcr Verbündctcn von dcr Notwendigkeit
seines spezififch tfchcchifchen Kricgszielcs: der Bcfrciung der „kleinen Bölker"
Ofteuropas, überzcugke und damit den tjchechifchen Staat gründete. Seine
„Philosophie" ift cine späte Form der Aufklärung, ein ins Polikifche ge-
wendetcr Rationalismus. „Demokratie gegen Theokratie." „Das Selbft-
beftiinmungsrecht der Nationen ergibt sich aus deni sittlichen Wcrte des
Humanitäksprinzips". „Die Nation ift eine Kulturorganisation", eiue „dcmo-
kratifche Qrganisation". Ihr fteht der Staat als „ariftokratifche", „thco-
kratifche", „Zwangsmittel anwendende, unkerdrückende Organisakion" gegen-
über. Die wefteuropäifchen Staakcn sind frcilich anders aufgebauk: der cng-
lifche hat sich, nach Masaryks Meinung, „am meiften dem Ideal dcr Huma-
nität genähert". Die wefteuropäifchen Staaten sind nach seiner Meinung
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