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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 43,2.1930

DOI Heft:
Heft 7 (Aprilheft 1930)
DOI Artikel:
Ullmann, Hermann: Die geistige Krise der europäischen Politik
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https://doi.org/10.11588/diglit.8888#0057

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Die geistige Krise der europäischen Polikik

Von Hermann Illlmann

O^er Zustand Europas wird zunächst nur von der wirtschastlichen und
'^-^polikischen Seite her als desorganisiert, zerrüttet geschen. Die geistige
Dcsorganisation als die Liefste Ursache zu bctrachten, enkschließt mau sich wohl
deshalb nicht, weil man über die handgreislichen Nöte dcs Tages nicht hinaus-
sindet und vielfach geradezu die geistige Wirrnis, in der Illusionen und
dauernde Entkäuschungen nebeneinander vegetieren können, brauchk, um weiter-
leben zu könuen. Und dennoch gibt es keinen Ausweg aus dem europäischen
Chaos ohne geistige Gesundung, also ohne ueue Frömmigkeit, ohne nene Bil-
dung von lehendiger Autoritäk.

Vorläufig stehen dicser gcistigen Gesundung, abgesehen von den äußereu Heni-
mungen und Kämpfcu, die dauernd neue seelische Verletzungen verursachen,
noch rein gcistige Hindernisse entgegen. Vor allem das geistigc Weiterleben
der lehten Vorkriegszcit in Gestalt von mannigfachen Illusionen. Man kanu
diese Illusioncn geradczu darnach einteilen, ob sie aus seclischer Schwäche
und von denen gehegt werdcn, die nur zu den Besiegten gehören, odcr ob sie
gepflcgt werden, weil sie den „Sicgern" Borteil bringen.

Was die erste 2lrt vou Illusionismus angeht, so gedeiht er zunächst im be-
siegtcu Deutschland, vor allem in senen Kreisen des deutschen Bolkes, die durch
Krieg und Zusammenbruch pcrsönlich nur verlorcn haben.

Der von einem unersetzlichen Verlust Bctrosfenc tuk sclten das „Zweck-
mäßigste". Die Anpassung an seine innere Lage geschieht m'chk so schnell, wie
die Anpassung au seine äußere es erfordern würde. Aus diesem Mißverhälk-
uis zwischen innerem Vermögen und äußerem Zwang flüchtek der vom
Schicksal Geschlagene in die Illusion, als fei der Vcrlust nicht unwiederbring-
lich, als handle es sich rücht um eine Entscheidung, sondern um eine Episode,
als sei nicht das Gegeuwärtige der Bcginn eines Endgültigen, als habe viel-
mehr das jüngst Verlorene als das Dauernde zu gelten. In dieser Seelenlage
steht der Geschlagene natürlich dcm Gegeuwärtigen völlig verneineud gegcn-
über, ja ein Weiterleben, ein Bild der Zukunst scheint ihm nur möglich aus
der Verneinung dcs Gegenwärtigeu heraus. Die Berneinung tvird zum
System, zum Selbstzwcck. Auch was scheinbar Auseinandersetzung nüt der
„Wirklichkeit" ist, gehk in Wahrheit nur aus dem subjektiven Bedürfnis
hervor, das verletzte Ich durch Vernciuung zu schützen, und bleibt eine „Fehl-
reaktion". Ganze politische Bewegungen bauen sich so auf der Gemeinsamkeit
seclischer Verletzungen und aus gemeinsamen Methoden des subjektiven
Schutzes gegen sie auf. Objektiv sind sie insosern zum Scheikern verurteilt,
als sie ja die „Wirklichkeit" gar nicht meistern wollen, sondern nur befriedigt
wcrden könnten durch die Wiederkehr des Verlorcnen. Ihre Phankasie, ihre
seelische Kraft versagt, so ost sie an einen Entwurs sür die Zukunst heran-
gehen, wcil ihr Denken zutiesst nach rücklvärts gewandt und immer durch den
Vergleich mit dcr Vergangcnheit gehemmt ist. Subjektiv sreilich und als
Grundlage einer Bewegung kann diese seelische Haltung „Ersolg" haben,
d. h. Massen sammeln und danüt Einsluß gewinnen. Es ist ja nach den Ge-
 
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