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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 43,2.1930

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Heft 8 (Maiheft 1930)
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Michel, Wilhelm: Piscator, "Das politische Theater"
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https://doi.org/10.11588/diglit.8888#0150

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Piscator, „Das politische Theater"

D > '^1 von der Jngend, viel von der Torheit nnsrer Zeit wirbelt in öiesem Buch*
heraus, und dazwischen steht Wahrheit im granen Kittel, den nnhumorigen
Protestanten-Ernst dieseS Erwin Piscator in den Augen, und sordert Anerkennung.
Man muß dieses Buch lesen. Es gibt nicht nur Auskunst uber PiScators Gründungen
und Pleiten, seine Regie, seine Theateridee. Es ist auch Urkunde und Quellenschrist
zur heutigen Kunst- und Geisteskrise, es ist ein wichtiger Beitrag zur Geistesge-
schichte der Zeit. Zwar hat man sich durch ein versilzteö Dickicht von Lehrmei-
nungen zu schlagen, die an hundert Punkten zur Kritik herauösordern. Aber der
lebendige Mensch und Könner Piscator steht voll Zeitbedeutung dabei, seine Leistun-
gen sind Tatsache, sein Zusammenhang mit grundlegenden Krästen nnd Tendenzen der
Gegenwart ist erwiesen. Also muß man sich mit ihm und seinem Buche beschästigen.
Die lebhaste Schildernng, überall von Dokumenten durchslochten, nimmt sogleich sür
sich ein. Piscator schreibt stellenweise etwas nachlässig, aber im Ganzen srisch,
knapp und anschaulich, aus einem starken Gesühl seiner Sendung, dem sich Gedank-
liches und Tatsächliches slott zu einer Einheit binden.

Man weiß, Piscator macht Knnst nur im Dicnste eines politischen Ziels. Dieses
Ziel ist ganz eindeutig die kommumstische Revolution, die Berherrlichung des Mar-
xismus und des bolschewistischen Rußlands. „Kunst kann nur Mittel im Klassen-
kamps sein, wenn sie überhaupt einen Sinn haben soll." „Worauf kam und kommt
es mir denn bei meiner ganzen Arbeit an ? Aus die Führung des Beweises, daß die
historisch-materialistische Weltanschauung nnd alles, was sich aus ihr herleitet, sür
unsre Zeit die alleingültige ist." Theaterspielen ist ihm geradezu Ersatz, Vorweg-
nahme der noch nicht stattgesundenen Bolschewisierung DeutschlandS: „Das Theater
muß von sich aus den Kampf gegen die Gesellschaft ausnehmen, um wieder zum
kulturellen, zentralen Faktor einer Gemeinschast zu werden."

Es ist leicht, das alles als baren Unsinn abzulehnen. Es hat aber Methode. Und es
hat, was oiel mehr als Methode ist: einen Kern von Zeitwahrheit, der unter keinen
Umständcn fortzuleugnen ist. Jn Piscators Theaterideen steckt vor allem ein voll-
gültiges Wissen um die Theater- und Kunstkrise. Es ist Tatsache, daß die Kunst-
vergötzung des Jm- und Erpressionismus zu Ende ist. Es ist Tatsache, daß Kunst
heute eine inhaltliche Begründung suchen muß. Es ist Tatsachc, daß die Konflikte,
von denen die Dramatik der letzten Jahrzehnte gelebt hat, heute völlig unergiebig
geworden sind; daß im Augenblick der nüchterne Verstand die Führung hat; daß
wir aus genaue Beachtung der sozialen und politischen Zusammenhänge unsres Da-
seins verwiesen sind. Piscator hat das alles richtig begrissen. Nicht so, wie man
öerlei im Denkraum zu begreisen pslegt und eS als Einsicht zu den übrigen Ein-
sichten stellt. Sondern er war von vornherein, als ganzer Mensch in die Form
dieses neuen Weltbildes hineingeboren, so daß es bei ihm alsbald Leidenschast und
Richtschnur seiner gestaltenden Arbeit wurde. Der Übergang aus dcr statischen in eine
dynamische Welt, von uns Älteren als eine Art Erdbeben miterlebt: sür Piscator
und viele von den Jungen war er nur Bestätigung ihres Dämons. Und hicr liegt
auch sein Fchler: die Krast der Veränderung (bestimmt, die vorhandenen Dinge in
eine neue Gestalt überzusühren) erlebt sich in Menschen wie Piscator mit apokalyp-
tischer Unbedingtheit alö das Einzige, daS gilt. Die „Rote Fahne" sprach einmal
von der „Salzsäure" in einer Piscatorschen Regie. Es gibt chemische Prozesse, zu
öenen Salzsäure nötig ist. Es ist die unzweiselhafte Bedeutung Piscators, daß er
am richtigen Punkt unsrer Theatergeschichte als „Salzsäure" ausgetreten ,'st. Aber
es ist seine Beschränknng und Beschränktheit, daß er sich nur als Salzsäure zu

Ädalbect Schultz Verlag, Berlin.
 
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