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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 43,2.1930

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Heft 8 (Maiheft 1930)
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Michel, Wilhelm: Piscator, "Das politische Theater"
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https://doi.org/10.11588/diglit.8888#0151

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erleben vermag und in dem, was Hilse znr Veränderung sein soll, das Ziel nnd das
Ergebnis selber sieht.

Pi'Scator stellt mit einer Schärse, die ersrischt, die neue Wahrheit heraus: die Kunst
muß dienen. Sie ist nicht eigenen Rechtes. Sie versumpft, wenn sie bewußt nur sich
selber, nur das ihre sucht. Jn der Anbindung an reale Lebenswerte erst kommt sie
zu Würde und Bestand. Piscator hat vollkommen recht gegen alle, die nicht zugeben
wollen, daß diese Ei'nsicht zu den notwendigen und vorantreibenden Einsichten der Zeit
gehört. Es ist ja keine neue, nur eine nen auftauchende Wahrheit: daß die Muse
zu begleiten, doch zu leiten nicht versteht, sollten wir noch von Goethe her wissen,
und die Unterworsenheit aller großen Kunst unter reale LebenSmächte (Glaube,
Kirche, Staat, Gesellschast) spricht ebenfalls ein deutlicheS Wort. Piscator hat recht
gegen alle Bersuche, die Kunstmeinungen des JmpressionismuS in ihrer Geltung zu
prolongieren; er hat recht gegen alle epigonischen Anhänger klassischer Asthctik
nnd Dichtung; er hat recht gegen die witzelnde Jronie, die sich nicht einseht, gegen
die Jch-Verbohrtheit des Erpressionismus, gegen die O Mensch-Dramatik eines
Toller und Genossen. Er hat recht gegen jede Art von Biedermeierei in Dichtnng und
Regie, d. h. gegen jede Vertretnng der Menschengestalt, die die mächtigen Verände-
rungen in unserer Welt nicht sehen und die Notwendigkeit eines großen Umdenkens
über das Ererbte nicht anerkennen will. Er hat die Trennungen, die Zcrreißungen
gesehen, die tatsächlich vorliegen und daher zu unsrer Wirklichkeit gehören: die Tren-
nnng deS Nachkriegsmenschen vom Vorkriegsmenschen, die Zerreißung des Volkes
in Klassen, die Scheidung von Gesühl und Verstand, die Scheidung der Kunst vom
Leben. Das macht ihn zum echken Genossen dieser Zeit und gibt seinem Tun jenes
Gewicht, das selbst Gegner anerkennen müssen.

Sein großer Fehler — der ihn zu einer tragischen, wenn nicht tragikomischen Fi'gur
macht — liegt darin, daß er alle diese Trennungen und Zerreißnngen zu e n d g ü l t i g
und unbedingt nimmt; daß er über ihnen alles vergißt (und seiner Art nach ver-
gessen m u ß), was sie an Zusammenhang, an lebendigem Fortleiten, an organischer
Menschengestalt bestehen lassen mußten. Sieht er die Verpslichtung der Knnst zum
Diencn, so heißt daS bei ihm: Absage an die Knnst, Verleugnung, gelegentlich sogar
Verhöhnung der Kunst. Mit Beisall zitiert er den Kerrschen schdler: Laßt's einen
aus mit den Dichtern, und gar den dadaistischen Rülpser: Kunst ist Sch . .. Er wehrt
sich verzweiselt dagegen, daß er „Künstler" sei, und gerät dadurch in Dutzende von
grotesken Widersprüchen mit sich selbst. Jeder seiner Parkettbesucher bescheinigt
ihm: Es ist Kunst, was du da oben machst, sonst ginge ich, der ich keineüwegs Kom-
nnmi'st bin, nicht in dieseS Theater hinein. Selbst seine treucsten Freunde küinmern
sich nicht um seinen Ehrgeiz, nur Politiker, nicht Künstler zu sein, und bezeugen ihm,
wie z. B. Herbert Jhering, daß sie sein Parteitheater nur als Durchgang zum
„menschheitspolitischen Welttheatcr" ernst nehmen und sördern. Piscakor selbst muß
sich bei Schwi'erigkeiten mit Gericht und Polizei ständig auf „die Kunst" und aus
ethisch-geistige Jnstanzen berusen, sür die er sonst nur Hohn und Ablehnung hat.
Er nimmt es eincm sozi'aldemokratischen Polizeipräsidenten sehr übel, daß er ihm sein
proletarisches Theater nicht konzessioniert, obwohl gerade e r das doch völlig selbst-
derständlich sinden müßte. Er billigt eine Resolution, die der Polizei ganz naiv
das Recht abspricht, „Bühnenaussührungen wegen ihreö JnhalkS abzulehnen" —
wo es sich doch um Deranstaltungen handelt, die nur ihreS (hetzerischen und staats-
gefährlichen) Jnhalts wegen ins Werk gesetzt werden. Er flüchtet sich, als ihn Wil-
helm II. wegcn des „Rasputin" verklagt, augenzwinkernd hinter die Kulisse der
„wahren Kunst". Mchrcre seiner Theater baut er ganz ossen aus den Zulauf von
Besucherkreisen auf, für die seine Politik höchstens als Verdauungsanregung in Frage
kommt.

^Nir liegt nichts daran, ihn durch diese Widersprüche in ein schiefes Licht zu setzen.
 
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