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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 43,2.1930

DOI Heft:
Heft 10 (Juliheft 1930)
DOI Artikel:
Alverdes, Paul: Über einige neuere Novellen
DOI Artikel:
Nötzel, Karl: Bücher über das neue Rußland, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.8888#0296

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läßt, sondern nur an das Leben. Freilich hat dieses Leben den Keim der Zerstörung von
allem Ansang an in der Brust, aber wie hier auS Lässigkeit Laster, aus Zersahrenheit
Zersall wird, Schuld und Unschuld, Freiheit und Derstrickung sich unlöslich vermischen
und das jämmerliche Ende unausweichlich herbeisuhren, das ist ja auch noch nichts
anderes als das Leben selbst, wenn es dem Blick auch davor schaudert.

Wieder drängt sich eine Vergleichung mit Straußens Reiter auf: auch daS Geschick
seines Helden erscheint unausweichlich, aber er geht unter, weil er etwaS andereö sein
oder werden möchte, als er ist, daS heißt also: als ihm vorbestimmt ist. Abraham,
den er beneidet, ist ein Maggid und im Besih geheimer Mächte, vielleicht ohne daß
er es weiß oder will; aber Nastali ist nur der „Reiter" und stirbt selig, weil er
am Ende doch geworden ist, was er nicht hatte bleiben wollen. Der junge R. ..
GregoryS indessen geht unter, weil er genau das bleibt und ist, was er immer ge-
wesen ist. Vorbestimmung? Gnadenwahl? Oder ist es wirklich so, daß die ersten
Reize und Eindrücke von einer ganz bestimmten Art die junge Seele für immer
sormen und daß der Zusall alles und Erfahrung und Bildung nichts bedeuten kön-
nen? Man sitzt über diesem „Zerstörten Leben" und kann sich der unheimlichen
inneren Folgerichtigkeit dieser Entwicklung nicht entziehen; und wenn man bestreitet,
daß der Krieg — wie Remarque es ausdrückt und wie es in der Einleitung dieser
Erzählung angedeutet wird — seine Generation zerstört habe, auch wenn sie den
Granaten entkommen sei — wenn man es bestreitet und sich einige Gründe dafür
weiß, so wird einem nur doppelt elend zu Mute. Denn wo hausen die Dämonen
dann und wo sind sie auszusuchen, die nicht nur das Leben dieses „jungen R..."
zerstört haben, sondern eine ganze Welt mit Zerstörung bedrohen, oder schon zerstört
haben, dic uns allen, einschließlich AlexanderGregoryS, unwiederbringlich teuer ist?
Osfenbar weiß er sich auch keine Antwort, denn der Kern seiner Erzählungen ist
tödlich bitter. Daß er nach einer sucht, ist indessen anzunehmen, denn Stücke wie
dieses „Zerstörte Leben" und diese „Zerstörte Welt" schreibt einer nicht aus Lust am
Fabulieren allein. Daß er es kann, und zuweilen erheblich besser als manche Leute
von der Profession, hat er bewiesen; sast möchte man ihm Zeiten wünschen, in denen
das Fabulieren auch sür ihn wieder eine Lust sein karin. Paul Alverdes

Bücher über das neue Rußland

'an kann sich zum heutigen Rußland stellen wie man will — und wir andern

^ ^ ^werden niemals aushören, unversöhnlichen Wiöerspruch zu erheben gegen den
dort herrschenden Massenterror und gegen das in der sogenannten Diktatur der marxi-
stischen Wisscnschasten versuchte Verbot der öffentlichen, freien geistigen AuSwirkung
eines Volkes —, so muß man doch zugeben, daß hier ein Gesellschaftsversuch von nie da-
gewesener Großartigkeit vorliegt, der zweiselloS eine Wendung in der Menschhcitsge-
schichte einleitet oder besser gesagt einer solchen entsprang. Anzuerkennen bleibt
auch auf jeden Fall, daß hier eine ihreSgleichen suchende menschliche Krastanstrengung
vor sich geht und zudem der ernsteste Versuch, nicht eine, sondern alle die heutige
Menschheit bewegenden Fragen gleichzeitig und endgültig zu lösen. Und das Erstaun-
lichste! Ein nie dagewesener Polizeistaat behält sich wie die schlimmsten asiatischen
Despotien die unumschränkte Verfügung vor über Besitz, Freiheit und Leben aller
seiner Untertanen, machk mithin alles rückgängig, was sich die westeuropäische Mensch-
heit unter unendlichen Opfern in 2000jährigen Kämpfen errang — und herrscht dabei
schon das iz. Jahr über ein Volk von über IZO Millionen! Freilich, dieses Volk
ertrug ein Vierteljahrtausend lang eine tatsächliche Sklaverei. Denn das war die
Leibeigcnschaft im Gegensatz zur westeuropäischen Hörigkeit.

Dieser einzi'gartige Gesellschaftsversuch wurde mit dem gesellschaftlich durchgeknetetsten
und wohl auch — seines unabschüttelbaren Menschtums wegen — knetbarsten, pla-

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