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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 43,2.1930

DOI Heft:
Heft 12 (Septemberheft 1930)
DOI Artikel:
Herrigel, Hermann: "Dem gegenwärtigen Augenblicke abzulauschen..."
DOI Artikel:
Alverdes, Paul: Von neuerer Tanzkunst: zwei Briefe
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https://doi.org/10.11588/diglit.8888#0442

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worten ein für allemal gäbe, die nur wieder in Errnnerung gebracht werden dürfen.
Wenn schon solche Antworten angeboten werden, so sollte es jedenfalls nicht mit der
Behauptung geschehen, daß sie dem gegenwärtigen Augenblick abgelauscht seien,
während sie ihm in Wahrheit aus einem der Gegenwärtigkert entgegengesetzten Grunde
her entgegengehalten werden.

Wenn so, wie es dem gegenwärtigen Augenblick angemessen ist, von der Forderung deS
Tageö gesprochen wird, so geschieht es nicht, um emphatisch zu sagen: „Unser ist der
heutige Tag!", als ob das die einfachste Sache wäre, die sich schon in der Einleitung
erledigen läßt, sondern es geschieht in dem Bewußtsein, daß dies die eigentliche und
entscheidende Gegenwartsausgabe ist, die von Ansang bis zu Ende über jedem Wort
steht und jedes Wort beschwert, das wir sagen. Denn die Aufgabe ist nicht bloß,
seine Forderungen in die Gegenwart zu werfen, nicht bloß überhaupt zur Gegenwart
zu sprechen, sondern i h r Wort, das richtige Wort zu sagen, so zu ihr zu
sprechen, w i e es dem gegenwärtigen Augenblick angemessen ist. Die Entfremdung
zwischen Geist und Leben läßt sich nur dann überbrücken, wenn der Geist aus seine
angemaßte Autonomie über die Dinge verzichtet, und daS heißt, wenn er das Recht
deS gewandelten Lebens anerkennt.

Es geht nicht an, vom gegenwärtigen Augenblick zu sprechen und zugleich sich über
ihn hinwegzusetzen, als ob er leer wäre. Wenn der Augenblick leer ist, ist einer wie
der andere, und es gibt ihm nichts abzulauschen. Dem leeren Augenblick lassen sich
Prinzipien von allgemeiner und zeitloser Geltung gegenüberstellen, die sich aus den
einen wie auf den andern anwenden lassen. Dieses Gegenüber von inhaltslosen
Augenblicken und zeitlosen Formen ist gerade das Zeichen der Entsremdung und
Spaltnng von Leben und Geist, von Jnhalt und Form, der gegenüber die Forderung
erhoben wurde, der Not des gegenwärtigen Augenblickes seine Not-Wendigkeit ab-
zulauschen. Das Leben braucht Formen und kann nur in Formen bewältigt werden,
aber nicht in Formen, die mit dem Jnhalt, mit der Schwere des Lebens nichts zu
tun haben und ihm in abstrakter Geltung ein sür allemal gegenüberstehen.

Hermann Herrigel

Von neuerer Tanzkunst

Zwei Briese

sO^ie blickten sauer darein, lieber Freund, als ich Jhnen bei unserer letzten Zu-
^—^sammenkunft mit gewissen Erwartungen von dem bevorstehenden Tänzer-Tref-
sen in Nlünchen und von dem fast unabsehbar reichen und bunten Programm sprach,
das uns für diese Veranstaltung verhießen war. Tanz? sragten Sie, was sür Tanz?
eS gebe, oder vielmehr es habe gegeben: Opsertänze, Kriegstänze, Tanz um die Ge-
fangenen, Tanz zur Feier der Beschneidung, Mannbarkeit, Fruchtbarkeit, Klan-
und Stammestänze, Tanz endlich zur Feier oder zur Beschwichtigung der Götter
und Dämonen — immer aber habe es sich beim echten Tanz um den Auödruck
oder die Feier eines allen gemeinsamen Glaubens, eineS allen verbindlichen
KulteS, oder eineS alle in gleichem Maße betreffenden oder erregenden Gemeinschafts-
Ereignisses gehandelt. Tanz ohne das? Tanz an sich? Sie zuckten die Achseln.
Sehen Sie sich doch einmal das an, fuhren Sie sort, was man heute Gesellschafts-
tanz nennt. Gesellschaft? nein, ein jeder sucht mit seiner Partnerin die Einsamkeit,
um etwas, nennen Sie es, wie Sie wollen, mit ihr alleine zu haben. Es würde mich
nicht wundern, wenn man sich nächstens zum Gesellschaststanz mit seiner Partnerin
in Einzelkabinen zu begeben hätte, es läge das durchaus in der Richtung seiner gegen-
wärtigen Entwicklung. Oder ob es irgendwo noch ctwas oder wieder etwas gebe oder
auch nur begehrt würde, was man dem Menuett oder der Quadrille vergleichen
könnte? Dic Franxaise auf dem Münchner Fasching sei der letzte Rest des wahren
Gesellschaststanzes.

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