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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 43,2.1930

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Heft 9 (Juniheft 1930)
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Herrigel, Hermann: Fragen, die aufs Ganze gestellt sind
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Umschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.8888#0233

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Unsere Fragen gehören einer Welt an, in der es keine Totalität gibt, nnd wenn Fra-
gen in der Totalität gestellt werden, wie es in diesem Drama geschieht, so sind die
Antworten darauf nicht die Antworten auf unsere entscheidenden Fragen.
Totalität ist Einheit, die Grenze der Welt, das Feld der Theorie, unsere Fragen
aber liegen in der Welheit, als Fragen der Wirklichkeit haben sie einen bestimmten
BezugSpunkt und sie mussen ihn behalten, um im Wirklichen zu bleiben. Wenn sie
darüber hinauS ins Absolute verallgemeinert, wenn sie also prinzipiell gestellt weröen
und nicht mehr bloß sür ein begrenzteS, sondern für das ganze Feld gelten, so wird
eine ganz andere Frage daraus, die für daö begrenzte Feld nichts mehr bcsagt.

Hermann Herrigel

Umschau

Drei Iltal Vertrauenskrise

ine von kollegialer Hand geschleuderte
Bombe hat vor einiger Zeit im Lager
der Kunstkritik eine Panik hervorgerufen.
Gemeint ist das von Alfred Kuhn in der
„Frankfurter Zeitung" abgelegte Be-
kenntnis, daß auch der Kunstkritiker zu
den erledigten Autoritäten zähle. „Scien
wir ehrlich", rief Kuhn mit selbstmöröeri-
scher Aufrichtigkeit aus, „und schreiben
wir keine Kunstkritik mehr. Man wirö
uns balö gerne entbehren." Sprach's,
warf sein Richtschwert zum alten Eisen
und widmete sich fortan, smart und mo-
dern, kunstbörslicher Berichterstattung.
Worauf sich eine „Vertrauenskrise der
Kunstkritik" in Gegenerklärungen, Wett-
bewerbsarbeiten für die beste Kunstkritik,
Diskussionsabenden und sonstigen „Stel-
lungnahmen" manifestierte. Solches ge-
schah auf deutschem Boöen. Wie wir nun
aus einem Bericht Eugen Szittays des
„Kunstblatteö" erfahren,wurden ungefähr
gleichzeitig auch in Frankreich leidenschaft-
liche Debatten über Wesen und Berechti-
gung der Kunstkritik geführt. Zwei große
Pariser Tageblätter haben Umfragen ver-
anstaltet,obKunstkritiküberhauptnötig sei.
An anderer Stelle wurden komprimittie-
rende Enthüllungen über den Einfluß des
Kunsthandels auf die Kunstkritik gemacht.
Jn Denedig geschah es vor kurzem, daß
der führende Kunstkritiker Jtaliens, Ugo
Ojetti, von neapolitanischen Künstlern
durchgeprügelt wurde. So darf man
wohl von einer fast europäischen „Ver-
trauenskrise der Kunstkritik" sprechen.
Aber weder Alfred Kuhn, der sie auf den
Wegfall einer normativen Asthetik zurück-
führt, noch Adolf Behne, der von soziolo-
gischer Zielsetzung eine Galvanisierung des
Metiers erwartet, decken die wahre Ur-
sache der kunstkritischen Agonie auf.

Das Fragwürdig-Werden der Kritik muß
als Symptom und Folge eines allgemein
kulturellen UmwandlungSprozesses ver-
standen werden — eines Prozesses, der,
negativ gewertet, den Zerfall der bürger-
lichen Bildungswelt bedeutet. Daß der
Kunstkritiker ein Erponent der bürgerli-
chen BildungSwelt ist, zeigt schon seine ge-
schichtliche Herkunft: als sich in Frankreich
um die Mitte des 18. Jahrhunderts die
bürgerliche BildungSwelt konstituierte,
trat auch der Kunstkritiker auf den Plan.
(Ungefähr in die gleiche Zeit fallen auch
die Anfänge des modernen AusstellungS-
wesens.) Jnnerhalb dieser bürgerlichen
Bildungöwelt wurde die Kunst zu einem
Bildungselement, der Kunstgenuß zu
einem Bildungserlebnis; d. h. aber, daß
die Kunst, früher natürlich-notwendiger
Bestandteil eines religiös oder gesellschaft-
lich homogenen Lebens, in eine Sphäre
entrückte, der sich der Gebildete nur auf
intcllektualistischem Wege nähern konnte.
Als Mentor auf diesem Wege bedurfte
er des Kunstkritikers.

Die bürgerliche Bildungswelt ist in Brü-
che gegangen. DieKunst hat aufgehört,
BildungSelement zu sein. Die Kunstkritik
ist überflüssig geworden. Der erste Kunst-
kritiker hat Harakiri verübt. Uino illae
Isoriinue .. .

»

Die Kunst war für den bürgerlichen Men-
schen ein Bildungselement. Was ist sie
für den Menschen von heute?

Der Übergang Alfred Kuhns von der
Kunstkritik zur kunstbörslichen Berichter-
stattung kann als eine Beantwortung die-
ser Frage genommen werden: die Kunst
ist Ware geworden.

Der Kunsthandel hat innerhalb unserer
spätkapitalistischen Wirtschaftsorönung
eine noch nie dagewesene Machtstellung
erlangt; ungeheure Kapitalien stehen zu

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