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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 43,2.1930

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Heft 12 (Septemberheft 1930)
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Michel, Wilhelm: Unterwühlung und neue Gestalt
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Herrigel, Hermann: "Dem gegenwärtigen Augenblicke abzulauschen..."
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https://doi.org/10.11588/diglit.8888#0438

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werden ganz neue Uggregatzustände zugemukek. Es siehk manchmal sehr kur-
bulenk aus, aber es ist es wahrscheinlich gar nichk. Man kann die Verände-
rung sogar sehr guk erklären. Wan kann sie nur vielleichk von zu vielen Sei-
ken her erklären. Daß die moderne Verkehrskechnik irgendwann einmal die alke
Welk umwerfen würde — was ist leichker begreiflich! Aber in gleichcr Rich-
Lung wirken die Enkwicklungen der kapikalistischen Wirkschafk, die welkpoli-
kischcn Berknüpsungen, die Verdrängung des Menschen durch die Maschine,
die ungeheuren geistigen lkmlagerungen, die sich neuerdings mik so schneidend
scharsen Linien in der Krise der polikischen Parkeien spiegeln. Ein halbes
Duhend verschiedene Nakionalismen, ebenso viele Sozialismen, Nepublikanis-
men und Demokrakismen durchirren die Geister, in neuen farbigen Verknüp-
fungcn, wie dic Pslanzen bei Burbank. Und so wenig im Augenblick die
Wahlzekkel auf die psychologischen Takbestände der heutigen Skaaksbürger
passen, so wenig passen die meisten alken Begriste auf das, was uns heuke zu
dcnken aufgegeben ist.

Es ist sicher, daß die Bewegkheik, in die wir gestürzk sind, m'chk das
lehke Work der Entwicklung sein wird. Ekwas im Mcnschen ist auf Dauer,
auf ruhende Gestalk verwiesen. Aber sie müssen auf anderer Ebene heuke
erarbeikek werden. Dabei sind viele Abschiede zu nehmen. Einer von ihnen
ist der Abschied von vielen charakkcrvollen, landschafklich eingebauken Gestal-
kungen, zu denen nichk nur das kleine Dorf gehörk, von dem hier die Rede
war, sondern auch Skädke, ganze Provinzen und Landstriche. Das wird sich
nichk in Ruinen ausdrücken, sondern in Anderungen ihres Lebenssinnes, in
geistigen Schwerpunkkverlagerungen, in Gestalkverschiebungen. Das Auge
wird eine ZeiLlang hungern, weil es der Sinn für das Erscheinende und Be-
stehende ist; die heukige Kunstkrise, auch der GegensaH zwischen dcm alken
stakischen und dem neuen funkkionalen Wohnraum beruhk größkenkeils darauf,
daß dem Auge heuke zwar nichk das Sehen, wohl aber das abstäudliche <Be-
schauen, das bekrachkende Ruhen und ästhekische Berweilen „verboken" ist.
Aber es ist dem Lebendigen nichk gegeben, dauernd in der hier gemeinken
„Unsichkbarkeik" zu verharren. Was heute so hefkig und so legikim ins Iln-
anschauliche strebk, wird eines Tages wieder für die Anschauung dastehen —
wenn auch in einer unvorstellbar veränderken Welk.

„Dem gegenwärkigen Augenblicke abzulauschen ..."

I vs Mllß bedenkli'ch stimmen, wie rasch das Jetzt und Hier zum Allgemeinbesi'H
^^geworden ist. Wenn eS so leicht ging, muß es nebenaus gegangen sein. Man
kann es heute in allen Borworten und Elnleitungen lesen, daß es unfrnchtbar sei',
allgemeine Grundsätze auszusprechen, und daß man sich auf das Jetzt und Hier
einstelleu und zum Tag, zur heutlgen Situation sprechen müsse. Die Zeiten sei'en
vorbei, in denen der Journalist von vornherein als gescheiterte Existenz bewachtet
wurde. „Journalistische Arbeit ist Arbeit für den Tag. Sie ist der Versuch, dem
gegenwärtigen Augenblicke abzulauschen, wonach er verlangt, und ihm dann zu geben,
was er braucht — eingedenk des alten Wortes, daß der wichtigste Augenblick im
Leben immer der ist, in dem wir gerade stehen, und der wichtigste Mensch der, den
wir gerade vor uns haben, und die wichtigste Ausgabe die, die gerade jetzt, nicht
gestern und nicht morgen, sondern gerade jetzt getan werden muß." Diese Worte
stammen nicht aus der Festrede bei einem Presseempfang, sondern von einem prote-

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