Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 43,2.1930

DOI Heft:
Heft 7 (Aprilheft 1930)
DOI Artikel:
Herrigel, Hermann: Wozu diskutieren wir?: Bemerkung
DOI Artikel:
Umschau
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.8888#0084

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
weiscndc Ansicht sind. Es grbl überhaupt sormale Gründe iricht an sich, sondern nur
auf einer subjektiven oder objektiven, privaten oder gemeinsamen materialcn Grund-
lage. Wo die gememsame materiale Grundlage fehlt, kann sie nicht durch
formale Gründe ersetzt werden. Wir dürfen, wenn wir gegen unsere Gründe
kritisch sind, nicht sagen: „Der Mann ist gescheit, also hat er Recht", sondern nur
nach dem Auödruck jencs Bauern von der Schwäbischen Alb: „Der Mann ist ge-
scheit, denn er denkt wie ich."

Wenn wir uns bewußt bleiben, daß wir über keine objektiven Gründe verfügen, die
vor unserer Ansicht liegen und sie daher begründen können, sondern daß wir un-
ausweichlich, schon im ersten Wort, nur unsere Jlnsicht zum Ausdruck bringen, so
verändert sich damit von Grund aus der Sinn unserer heutigen Diskussion: ihre
Absicht kann es nicht mehr sein, den Gegner zu überzeugen, zu widerlegen,
zum Schweigen zu bringen, sondern nur im gegenseitigen Widerspruch die beiden
Ansichten zu entwickeln uud ihre Voraussetzungen zu klären. Mit dem Derlust
einer standpunkts-jenseitigen, objektiven materialen Grundlage ist der substanzielle
Wahrheitsbegriff, der auf dem Satz des Widerspruchs beruht, hinfällig gewordeu.
Wahrheit ist nicht Sache eines einfachen Ja und Nein. Daher ist Philosophie heute
ein Gespräch, während die eine Philosophie, die eine Wahrheit, ein Monolog ist.
Wichtiger, als den Gegner zu widerlegen und seinen Widerspruch zum Schweigeu
zu bringen, ist eS, seinen Widerspruch iu der Abwandlung der eigencn Ansicht frucht-
bar zu machen. Die Widerlegung ist nur der Grenzfall der Abwandlung, dessen Be-
deutung nicht im Praktischen, sondern nur im Prinzipiellen liegt, daß er uns nämlich
nicht vergessen läßt, daß es Wahrheit und uicht bloß Abwandlung gibk. Für die
Abwandlung entscheidend sind nicht objektive Gründe, die außer und vor der Dis-
kussion liegen, sondern Tatbestände. Damit können wir uns jedoch nicht, nur unter
einem anderen Titel, wieder auf einen objektiven Grund stützen, sondern es ist damit
der verändcrte Charakter der widersprechenden und durch den Widerspruch ab-
wandelnden, im Grenzfall beweisenden oder widerlegenden Wahrheit zum Ausdruck
gebracht.

Auch diese Bemerkung kann und will nichts beweisen, soudern nur einen Tatbestand
aussprechen. Hermann Herrigel

Umschau

Das Erlebnis der Ernüchternng

ie moderne Nüchternheit — ich denke
an die Nüchternheit des Zeit- und
Neportagestücks, des modernen Feuille-
tons, der neuen Banweise — mag Sei-
ten haben, von denen der Vorwurf dcr
Entseelung berechtigt ist: aber im Zu-
sammenhang der Geistesgeschichte bildet
sie ein notwendiges, ein verständliches
und zu bejahendcs Glied. Man muß
sie aufzufassen wissen als das Ergebnis
einer Periode, in der der Mensch unsrcs
Kulturkrei'ses bis zur Selbstlähmung mit
öcn Problemen des Jchs, mit den Kon-
flikten der eigenen Seele beschäftigt war.
Man muß begreifen, daß wir alle,
mögen wir im einzelnen auch gegen
hybride AuSwucherungen der modernen

64

Nüchternheit kämpfen, von ihren trei-
benden, positiven Kräften ergrisfen und
bestimmt sind.

Jch las dieser Tage ein neu übersetztcö
Drama von U u a m u n o, „Der An-
d e r e" (Verlag Meyer L Jessen).
Eine Umrätscluug des Jchs und sciner
Geheimnisse. Eine ticfsinnige Grübelei
übcr das Jrrewerden au der eigenen
(ydentität. Ein in Handlung und Ne-
flerion umgesetzteö Erschrecken vor dem
eigenen Spiegelbild. Und mit alledem
hosfnungslos überholt und abgcstanden,
verfangen in Rätseln, die in diesei
Weise heute nicht nur dem Obcrfläch-
lichcn, sondern gerade dem tiefer mit
der Stunde Lcbenden unergi'ebig, sinnlcer
und fruchtloü geworden sind.

Gewiß, es gab cinmal eine Notwendig-
 
Annotationen