Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 43,2.1930

DOI Heft:
Heft 7 (Aprilheft 1930)
DOI Artikel:
Herrigel, Hermann: Wozu diskutieren wir?: Bemerkung
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.8888#0083

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
worden sind, so besiand doch ztveisellos immer noch der Anspruch, die eigene Thcsc
dnrch Gründe zu beiveisen, den Gegner zu ividerlegen und zur Aufgabe seiner These
zu zivingen.

Mit diesem Anspruch können wir heute nicht mehr diskutieren. Wir können unsere
Gegner nicht mehr überzeugen, denn wir haben keine Beweismöglichkeit mehr. Ein
Beweis besteht darin, daß eine subjektive Ansicht aus objektive Gründe znrückge-
sührt wird, wobei „subjektio" nur heißt, daß es sich um eine Ansicht handelt, die
von einem Einzelnen ausgestellt und noch nicht allgemein angenommen ist, wäh-
rend objektiv das ist, was von beiden Gegnern anerkannt wird. Nur aus einer
solchen gcmeinsamen Grundlage ist cin Beweis zu sühren. Wenn die Autorität
dcr Kirchcnväter Gemeinbesitz der verschiedenen theologischen Schulen war, so heißt
das, daß ihre Sätze bcweiskräftig waren im Streit um die voneinander abweichenden
Schulmeinungen. Diese Autorität ist nicht bloß eine sormale, sondern eine spezifisch
theologische, das heißt, sie gründet sich nicht bloß aus äußere Gründe, wie etwa,
daß es sich hier um die Theologen der ersten Jahrhunderte handelt, sondern die
Kirchenväter sind ihrer Definition nach „diejenigen Kirchenschriststeller der älteren
Zeit, welche von der Kirche wegen ihrer Derdienste um die kirchliche Wissenschaft,
verbunden mit Heiligkeit des Wandels, als Zeugen und Bertreter der kirchlichen
Lehre anerkannt werden." Diese Definition, in der die Kirche und die kirchliche
Lehre vorkoinmen, zeigt schon, daß die Autorität der Kirchenväter die der Kirche und
der kirchlichen Lehre einschließt. Damlt erhalten alle Begrisse, die in einem Lheolo-
gischen Schulstreit vorkommen, schon eine ganz bestimmte Vorbcdeutung, die
außerhalb der Diskussion bleibt. Für jeden Begriss steht eine bestimmte Desinition
s, t>, o sest, so daß sich die Diskussion nur um das cl, e usw. drehen kann. Die
Di'skussion hat also eine gemeinsame materiale Grundlage, sie ist nicht eine DiS-
kussion der Grundlagen selber. Daraus, daß es sich in einer solchen Diskussion
immer nur um die Deduktion von feststehenden Sätzen aus handelt, erklärt es sich
auch, daß in ihr die formale Logik eine so große Rolle spielt.

Erst im Gegensatz zu dieser DiskussionSmöglichkeit wird die gänzlich veränderte
Situation, in der wir heute diskutieren, verständlich. Wir habcn für unsere Dis-
kussionen keine gemeinsanien Grundlagen und damit auch keine Beweismöglichkeit
mehr. Wir haben kein gemeinsames g, b, o mehr, sondern inüssen beim s ansangen;
wir habeu keine gemeinsame inateriale Grundlage mehr, sondern nur eine sormale.
Unser gemeinsamer Besitz ist beschränkt auf den nackten sornialen Wortsinn, der eben
noch die Verständigung ermöglicht. AlleS, waS darüber hinauSgeht, ist schon die sub-
jektivc, nicht mehr gemeinsame, sondern der Diskussion unterworsene Ansicht des
einzelnen. Da unsere Diskussionen schon bei s ansangen, ist es uns unmöglich, hinter
unsere Thescn zurückzugehen aus eine gemeinsame materiale Grundlage, von der
aus sie objektiv begründet werden können. Schon unser allererster Ansatz, schon die
Desinition der Begrisse, durch die wir unsere Ansicht zum Ausdruck bringen, ist
selber Gegenstand der Diskussion.

Das ist unsere Situation, aber es scheint, daß diese Situation noch nicht zum Be-
wußtsein gekommen ist, denn tatsächlich werden auch heute noch die Diskussionen
so geführt, als ob wir cine BeweiSmöglichkeit besäßen und unsere Gegner durch
objektive zwingende Gründe überzeugen könnten. Dabei nehmen wir aber im An-
satz schon vorweg, was erst zu beweisen ist. Wenn eö z. B. in einer Buchbe-
sprechung heißt, „daß die Ausführungen sich ebenso durch umsassende Beherrschung
des Stosses, wie durch klare, sachliche llberlegung auszeichnen", um durch diese
scheinbar rein sormale Würdigung, die vom Jnhalt absieht, dem Gegner den Wert
des Buches zu bcweisen, so ist auch dieses Urteil schon ein materiales, das die
Billigung des JnhalteS vorwegnimmt. Auch solche sormalen Gründe haben in
Wahrheit keine Beweiskrast mehr, da sie nur ein anderer Ausdruck sür die zu be-

63
 
Annotationen