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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 43,2.1930

DOI Heft:
Heft 9 (Juniheft 1930)
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Herrigel, Hermann: Fragen, die aufs Ganze gestellt sind
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https://doi.org/10.11588/diglit.8888#0231

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Fragen, die aufs Ganze gestellk stnd

^^n dem Drama „Schwingen über Europa" des Engländers Nlchols und des
<-»^)Amerikaners Browne, das fast anderchalb Jahre lang in einem New Iorker
Theater gespielt wurde und jetzt auch auf deutschen Bühnen gegeben wird, ist eine
Frage gestellt, die wie die Frage Dostojewökis im Großrnqulsitor aufs Ganze geht.
Die Fabel ist m das Jahr igrjo verlegt. Francis Ligthman, 2Z Jahre alt, ein
junger Physiker, dessen Arbeiten von dem großen Einstein mit Jnteresse verfolgt
und anerkannt werden, trägt dem englischen Kabinett eine Entdeckung vor, die es
ihm ermöglicht, die Atomkräfte freizumachen und zu beherrschen, und verlangt vom
Kabinett einen Plan zur Berwertung dieser Entdeckung. Es scheint auf den ersten
Blick verwunderlich, daß dieser Plan vor das Kabinett gebracht wird, und auch dem
Kabinett selber ist das verwunderlich, denn es weiß mit dem, was ihm vorgetragen
wird, nichts anzufangen. Der Kriegsminister scheint der erste zu sein, der die prak-
tische Bedeutung ahnt. Sobald man sich jedoch klar macht, was die Beherrschung
der Atomkräfte bedeutet, so wird auch klar, daß es sich hier um eine eminent poli-
tische Frage handelt, die vor gar keine andere Jnstanz gebracht werden kann, als
die Regierung. Bielleicht ist es noch richtiger zu sagen: um eine so unpolltische
Frage, insofern dadurch alle bisherige Politik aufgehoben wird, daß nur die Re-
gierung als Träger der Politik ihr Gegenspieler sein k a n n. Die Beherrschung der
Atomkräfte, so wie sie in dem Drama gemeint ist, ist nämlich nicht nur die Lösung
irgendeines technischen Problems, sondern sie ist die Lösung des letzten techni-
schen Problems. Was damit gewonnen ist, ist nicht bloß ein neuer technischer Effekt,
sondern es ist damit das Letzte, eS ist alles gewonnen. Es ist damit möglich ge-
worden, einen Stein nach Belieben in Gummi oder in Brot vder auch in Gold zu
verwandeln, aber nicht allein das, sondern eS ist ebenso möglich geworden, ihn nicht
bloß in Atome, sondern in Elektronen zu zerpulvern, also in bisher ungeahnter Weise
radikal zu vernichten. Die Entdeckung Francis Li'gthmanS schließt also die Möglich-
keit ein, alle materielle Not zu beseitigen und das Paradies auf Erden zu verwirk-
lichen, aber zugleich auch die andere Möglichkeit der schlechthin vollkommenen Zer-
störung. Die Möglichkeit der totalen Derwirklichung des Guten wie des Bösen hebt
allen Besitz und allc Macht, damit aber auch alles Recht und alles Unrecht und
schließlich jede Regierung und jede Politik auf.

Mit dieser Entdeckung ist also die Grenze der Technik erreicht. Die Technik ist erfüllt
und abgeschlossen. Die Verwirklichung hat keine Grenze mehr. Aber wenn auch
alles ganz verwirklicht werden kann, so kann doch bloß das Eine oder das An-
dere, das Gute oder das Böse verwirklicht werden. Das unterscheidet die damit
gewonnene absolute Möglichkeit von jedem relativen techmschen Fortschritt, also
von jeder Maschine, mit der Gutes und BöseS zugleich verwirklicht wird. Erst das
Gute und das Böse als Ganzes schließen einander aus. So ist aber in diesem Drama
die Frage gestellt. Wenn der Mensch gut ist, wird er die Möglichkeit, ein Ganzes
zu tun, zum Guten verwenden und das Paradies auf Erden verwirklichen; ist er
böse, so wird er nicht ruhen, bis die ganze Welt zerstört ist.

Francis Ligthman glaubt, daß die Menschen gut sind, und daß sie seine Entdeckung
dazu benutzen werden, alleS Böse, das nur aus der Not kommt, zu beseitigen. Er
weiß ,'n der Tat nicht, wie Baughan sagt, was Recht und Unrecht ist, denn auch um
das Recht kann man nur wissen, wenn man um das Unrecht weiß. Er weiß aber
nur um daS Eine. Der Unterschied von Recht und Unrecht gehört für ihn wie jeder
Unterschied nur der gegenwärtigen Welt an. Die Möglichkeit, die er mit seiner
Entdeckung anbietet, muß, gerade weil sie Möglichkeit zur vollen, zur restlosen Ver-
wirklichung ist, auch diesen Unterschied beseiti'gen. Sein Gegenspieler ist die Regie-
rung, die in der gegenwärtigen Welt Politik zu machen hat, die also um das Böse

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