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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 43,2.1930

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Heft 7 (Aprilheft 1930)
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Heiseler, Henry von: Erlebtes aus Sowjetrußland
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Heiseler, Henry von: Der Traum von Deutschland
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https://doi.org/10.11588/diglit.8888#0043

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Märchen, sondern Tatsache, so unsaßlich sie einem Westeuropäer erscheinen
mag. Der Vorsihendc der amerikanischen Hungersnok-Kommission sagte
zu einem mir bekannten Pfarrer: „was woklen Sie eigentlich? Ihr Volk
wählt doch selbst diese Regiernng — in freicr, gleicher und geheimer Wahl —,
Sie habcn also doch die Regierung, die Sie sich selbst wünschen." Der Herr
konnte sich also dic wahre Sachlage überhaupt nicht vorstellen. Die wahre
Sachlage aber ist die folgende: in Sowjetrußland „wählk" überhaupk kein an-
siändiger Mensch. Denn er weiß ganz genau, daß in jeder Wahlkommission
nur Bolschewiken sihen — und allenfalls ein durch Geld oder Schrecken be-
slochener Menschcwik. Iede Wahlurnc kann mit einer geheimen Klappe ver-
sehen sein, die es der Wahlkommission in jedem einzelnen Fall ermöglicht
festzustellen, wie dcr betrefsende Bürger gewählt hat. Melleicht gibk es aucl'
keine geheimen Klappen mehr, denn kein russischer Bürgcr wird jetzt so
dumm sein in eine kommunistische Wahlurne einen nichtkommunistischen
SLinnnzcttel hineinzustecken. Und selbst wenn eine Wahlkommission in eincr
Urne Zoooo bürgcrliche und i kommunistischen Stimmzettel vorfände, so läse
man am nächstcn Morgen in der Zcikung, daß Zoooi kommunistische Stim-
meil abgegeben worden scien. Denn es gibt keine unabhängige Presse — nur
einc P. D.-Presse; es gibt keine freie, gleiche und geheime Wahl; es gibt auch
keinen Kommunismus in Rußland... auch dieser ist ein P. D>, ein auf das
Ausland bcrechnetes Aushängeschild... es gibt nur cinen brutalen, büro
kratischen, absolutistischen Polizeistaat — und das in eineni
Maße, von dem sich Europa nnd Amerika keine Vorstellung machen können.
Von Rechtswegen müßten dic Buchstaben P. D. auf der Reichsfcchne der
Sowjetrepublik stehen.

T)er Traum von Deinschland

Zn diesen Iahreii ber Trennung, dcs Krieges und dcr Wirren schwillt „der
Traum von Deutschland" in mir zu innncr größerem Umsang an. Absolul
genommcn ist es ja kein Trauni, sondern Wirklichkeit: das Da-sein Dentsch-
lands, des vergangenen, des gegenwärtigen und — wie ich mik ganzer Seele
fühle — des künftigcn. Mich persönlich abcr, den Entfernten, Losgelösten,
Getrennten umfängt jene Wirklichkeit mit der 2ltmosphäre des Traums. llnd
angesichts dcr llnmöglichkcik, rein änßerlich in und nn'k jenem Deutschland zu
leben, snchc ich es in mir zu erzeugen, wiederzugewinnen das Verlorene, das
zeitloeilig Entrückte in dcn Kreis des Gefühls und Bewußtseins zurückzuzwin
gen. Einsacher ausgcdrückt, ich tue das jeht eben jchriftlich, was ich in diesen
Iahren mit immcr wachsendeni Nachdruck im Denkcn und Fühlen gekan...
und das ist: „das Land der Deukschcn init der Seele zu suchen".

Früher war ich ernstlich übcrzeugt, es sei höher und besser, der ganzen Mensch
heik anzugehören, als cincr bcstimmten Ication. Weltbürgertum — ästethischer
Internationalismus ich fasse heute kauni, daß ich damals die ganze Sinn-
losigkeit solchcr Bcgrist'e nichk zu erkennen vermochte. Das ist so, als wollte ein
Pferd oder Löwe sein Pferd-und Löwentum ausschalken, um danach erst der Tier-
welt anzngehörcn. Ietzt weiß ich, daß ich überhaupt nnr dann ganz Mensch sein
kann, wenn ich vorher ganz Deutscher, Russe, Malaic oder Chinese bin. Dies
allein hat Ncalitäk, jenes andere ist nur ein künstliches Hirngespinst.
 
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