Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 43,2.1930

DOI Heft:
Heft 7 (Aprilheft 1930)
DOI Artikel:
Umschau
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.8888#0093

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
uml für die auf ciuc Leinwand pro-
jl'zierkcii Borstellunczcn des Herrn T voin
PubllkumSgeschmack; denn diese Vorstel-
lungen entsprechen weder den wirklichen
Ansi'chten deS Herrn X, noch den wi'rk-
lichen Ansichten der Millionen Menschen,
gcnannt Publikuni, uoch überhaupt

einem der Mllli'onen von üiteressanten

Dingcn ln der Wirklichkeit. Als cS so
m'cht mehr weiterging, half wieder ein-
mal die Technik im lehten Augenblick

und ersand cine neuc Sensation, den
Tonfilm. Sic wird nicht lange vor-

halten.

Die Russen brauchcn den Tonfilm nicht.
Sicher werden auch sie sich seiner cines
Tages bediencn. Aber sie haben Zeit.
Sie sind nicht erschöpft. Jhre Filmkunst
verschlammt nicht im Brei dcr geschäst-
lichen „Publikums"-Spekulation, und sie
ist kein geschästlich unverwertbares Ex-
periment sür Snobs. Sie ist sicher ge-
gründet aus einen politischen Glaubeu.
Ein gesundes BerhältniS von Kunst und
übergcordncter Jdce ist gegeben, wie es
von jc die stärksten Leistungen bewirkt
hat.

Mau soll das ruhig aussprechen. Deut-
lichcr noch als währeud dcr revolutionä-
reu Phase des russischen Films ist cs bei
eiuer Betrachtung seines neueii „auf-
bauenden" Stadiums, daß solcheSähe
gar m'cht als Propaganda für den Bol-
schewismus gcmeint sein könncn. Denn
bei der Zivilisation des russischen Bauern
handelt es sich um Fragen und Bestre-
bungen, die Westeuropa im 16. Jahr-
hnndert bewegten. Dcr Enthusiasmus
für die Maschine, sür Arbeit, Orgarn'-
sati'on, rakionellen Betrieb, der nu'k reli-
giösem Fanatismus gesührte Kampf ge-
geu die Religion und jedes metaphy-
sische Denken überhaupt, das ist Dol-
taire, das sind die Enzyklopädisten und
Physiokraten, das sind die wiederaufer-
standenen leidenschaftlichen und als Per-
sönlichkeiten verehrungswürdigen Helden
des reincn DerstandcS, deren letzterZola
gewcsen ist. Die Russen sind so echt,
stark und — sern, wie jene.

„D e r Kanips um die Er d e", der
große landwirtschaftliche Propaganda-
film S. M. Eisensteins, deö Regisseurs
vvn „Panzerkreuzer Potcmkin", entbehrk
für unü jeder Aktualität. Es gibt in
Deutschland keine Bauern, die in Lehm-
hütten wohnen und sich noch selbst vor
den Pflug spannen müssen; die Grün-

duug eincü laudwirtschaftlichcn „Kollek-
tivs" ist keine Notwendigkeit und kein
Ereignis, wo längst Genossenschasten iu
loserer Forni bestehen, und die Anschaffung
eines Zuchtbullen und eincs Traktors ist
bei uns keine Heldentat, die unerhörte
Anstrengungen und Kämpse erfordert;
es gibt schließlich den Gegensatz zwischc»
Dorfarmut und „Kulaken" m'cht in die-
ser Weise. Wir genießen einen Film, der
von alledem handelt, als reines Kunst-
werk. Aber er ward zu einem Kunst-
werk, weil alle Mittel leidenschaftlich
eingesetzt sind, nicht um der Kunst wil-
len, geschweige um des Geschäftes willen,
sondern im Eiscr einer antireligiösen Re-
ligiosität.

Es wirkt daher nicht läppisch, wenu der
Enttäuschung über cine ekstatische und
doch vergebliche Bittprozession dic Bc-
friedigung über eiue Milchmaschine ge-
genübergestellt wird. Die Jntensität dcr
Großaufnahmen berührt sich in charakte-
ristischer Weisc mit der „Heiligen Jo-
hanna". Dazu kommt das Bild der
Natur, einer einfachen Natur, der Fel-
der, Wiesen, Flüssc und des großen
Himmels, ohne jede Attraktion dcs
Fremdenverkehrs. Aber Wind und Re-
gen, Sonnc und Wolken sind unmittel-
bar in das Bild gebannt.

Die Vorzüge aus der revolutionären
Phase dcs russischen Films blieben selbst-
verständlich erhalten: das bedeutungs-
volle Spiel der Requisiten und architek-
tonischen Ornamente, die charakterisie-
rende Einstellung des Apparatcs, die
bis in die Zwischentitel spannungsreich
gearbeitete Montage, der genau abge-
wogene Wechsel des Tempos, der Star,
der kein Star ist, sondern als „eine unter
vielen" aus der Menge wächst. Bc-
wundernswert ist, daß man über das re-
volutionäre Stadium hinauskam. Konntc
doch schon eine Zeitlang eine der Branche
gesällige „Filmkritik" mit plötzlichem
Ernste seststellcn, daß der russische Film
— z. B- S. M. Eisensteins „Zehn
Tage, die die Welt erschüttern" — zur
Schablone geworden. Aber siehe da:
Sturm und Drang waren von fruchtbarer
Art: es solgten die Jahre, wo das Ein-
fachste gelang, das das Schwerste ist:
nach dcm Drama des politischen Kamp-
ses das Epos dcs alltäglichen „Kamp-
seö um die Erde".

Wolsgang Petzet

6g
 
Annotationen