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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 43,2.1930

DOI issue:
Heft 12 (Septemberheft 1930)
DOI article:
Alverdes, Paul: Von neuerer Tanzkunst: zwei Briefe
DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.8888#0447

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getretenen Schuhen des Expressionismus hinter den Bergen hervorgeschritken und hält
uns noch einmal seine Laienpredigt über das Thema: Nie wieder Krieg!

Lieber Freund, ich darf in die Lauterkeit seiner Gesinnung, in die Wahrhastigkeit seiner
persönlichen Erschütterung keine Zweifel setzen: aber waS für eine reinliche und klare
Sache ist jener politische Pazist'SmuS, der sich auf die fürchterlichen realen Folgen
deö letzten Krieges beruft und vor Wiederholung warnt, gegen diesen, der sich in
unklaren metaphysischen Phrasen gefällt, die niemanden und nichts verbinden und
verpflichten?!

Dennoch gab es an diesem Abend große, um Inicht zu sagen unvergeßliche Eindrücke.
Denn waS auch immer der dichtende Talhoff, der sich mit diesem Text als einen
Dilettanten zu erkennen gab, unS schuldig bleiben niußte — der Regisseur Talhoff
hat uns Proben eines außergewöhnlichen Talentes geliefert. Zwar hat er nnS von
der Möglichkeit eines Gesamtkunstwerkes, wie es ihm in der Verbindung von Jn-
strumentalchor, Sprechchor, Farborchester, Tanzenden Chören und Einzelstimmen und
-figuren vorschwebte, nicht zu überzeugen vermocht. Die „Lichtaltäre" beispielsweise,
die er hinter die Szene gestellt hatte und die ihrem „farborchestrischen" Geschehen
nicht untergeordnet, sondern als „zelebrierender Chor" den übrigen Chören beige-
ordnet wirken sollten, gelangten kaum über das hinaus, was man von den Wetter-
machern und Bedienern deü groß und kleinen Himmelslichtes der normalen Bühne
auch kennt, und die Geräusch-Aktionen deS Jnstrumentalchores vollends waren in
ihrer barbarischen Eintönigkeit auf die Dauer nur fchwer erträglich. Ungewöhn-
liches leisteten dagegen unter der Leitung Talhoff-Wigman die beiden Tanzchöre. Es
gab einen Zug klagender Mütter von einer Ausdrucksgewalt, die alles, was bisher
an tänzerischer Gestaltung auf unseren Bühnen zu sehen war, weit hinter sich ließ.
Es gab ferner einen dreigestuft in die Szene herein ruckenden und zuckenden Geister-
chor, von dem alle Schauer des Grabes in den Saal hereinfuhren, und so sehr meine
Empfindung sich dagegen wehrte, den Gespenstertanz, den er nachher aufführte, mit
den Toten des Krieges in eine Verbindung gebracht zu wissen, so sehr muß ich die
künstlerische Kraft, die daS zu erschauen und hernach mit dem schwierigsten Material,
dem tänzerisch bewegten Menschen, inS Werk zu setzen imstande war — so sehr muß
ich sie bewundern.

Jch habe Jhnen anzudeuten versucht, lieber Freund, weshalb ich mit dem Text dieses
„Totenmales" nicht das Geringste anzufangen vermag, und Sie werden über der
Lektüre seiner bombastischen Trivialitäten den Kopf noch oft genug schütteln: er
ist, um eS noch einmal zusammenzufassen, eine zweifellos ehrlich gemeinte pazifisti-
sche Laienpredigt, in der sich das Weherufen und die echte Erschütterung eines Mit-
leidigen mit einer frömmelnden und hochfahrenden Besserwisserei und Rechthaberei
wunderlich genug vermischen. Jch habe Jhnen darum auch zu bekennen, daß ,'ch
diesen Talhoff gleichwohl für einen bedeutenden Künstler halte, dessen Material aber
nicht die Sprache und wohl auch nicht die Musik, sondern der lebendig bewegte,
der tänzerische Mensch ist. Und insoferne erscheinen mir der Aufwand und die Opfer,
die von der öffentlichen und sehr viel mehr noch von der privaten Hand seiner Sache
gebracht wurden, immerhin nicht verspielt und vertan. Am Vorabend der Urauffüh-
rung ließ die Stadt München, die mit einer sehr erheblichen Summe das Talhofffche
Unternehmen unkerstützt hatte, offiziös erklären, daß diese Unterstützung nicht etwa
einer Billigung der politischen Meinungen des Autors gleichzuachten sei; es gab
darüber einiges Schmunzeln, wie Sie sich denken können. Den Nachsatz aber, wonach
die Stadt mit dieser Unterstützung vor allem ihre prinzipielle Bereitwilligkeit zur
tätigen Förderung neuer künstlerischer Bestrebungen überhaupt ausgedrückt haben
wollte — diesen Nachsatz haben wir akle, denen diese oft mit Recht angegriffene und
oft so billig verleumdete Stadt teuer ist, mit Freude und mit ernster Zuversicht auf-
genommen und werden uns seiner zu erinnern wissen. Und nun leben Sie wohl.

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