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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 7.1893-1894

DOI issue:
Heft 2 (2. Oktoberheft 1893)
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Bie, Oscar: Anregende Missverständnisse
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https://doi.org/10.11588/diglit.11728#0027

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Avveltes Gktober-Dekt 1893.




SBiklc

2. Dett.

Lrscbeint

Derausgeber:

Zferdinand Nvennrius.

Kestellpreis:
vierteljährlich 2l/z Mark.

7.Zabrg.

Nnregende Missverständnisse.

eitdem die Auffassung der Kunst sich vom fest-
genagelten Dogmatismus frei zu machen und
sich auf unser gutes menschliches Recht zu
gründen begonnen hat, achtet man auch wohl
eher auf allerlei Thatsachen der Geschichte, die —- vom
rrüheren Standpunkte aus unbegreislich — die Meinung
von der absoluten Herrschaft eines „Schönen" sogar so
glänzend widerlegen, daß sie vielmehr zeigen, wie selbst auf
mißverständlichen Ansichten sich Kunstanregungen, ja Kunst-
epochen von weittragender Bedeutung aufbauen konnten,
wofern sie nur eben gut menschlich verinnerlicht waren.
Denn, wenn sie nur durchs Herz gehen, so find auch
Jrrtümer gar seste Bausteine für eine Kunstschöpfung.
Jrrtümer sind sie ja nur des Kopfes, das Herz kennt
nicht Logik und Unlogik, sondern nur Stärke und Schwäche
des Gesühls. Und lnag eine Vorstellung zehnmal als
unrichtig erkannt sein, saugte sie auf dem Wege vom
Kopfe zum Herzen die gehörige Kraft ein, so ist sie sür
die Kunst ein ergiebiger Gegenstand. Vor mir liegt
Nietzsches Zarathustra. Ein Deutsch von wunderbar
prägnanter Kraft. Hat er es ganz erfunden? Er nahm
von der Bibel den Parallelismus des lyrischen Behagens
und noch mehr — er nahm von der alten deutschen Über-
setzung das wirksame Mittel der Ersetzung des Konkretums
durch das Abstraktum. Das Hebräische ncacht zwischen
diesen beiden in der Weichheit seines Sprachgefühls kaum
einen Unterschied. Eine genaue deutsche Übersetzung kommt
dadurch in Widersprüche zum gewöhnlichen Sprachgebrauch.
Bei Luther, der dem einzelnen Worte nachgeht, lesen wir
unter Jesaia: „zu der Zeit wird der Herr Zebaoth sein
eine liebliche Krone und herrlicher Kranz d<> Übrigen

^--

seines Volks, und ein Geist des Rechts dem, der zu Gericlst
sitzt, und eine Stärke denen, die vom Streit wiederkommen
zum Thor .... denn du bist der Geringen Stärke, der
Armen Stärke in der Trübsal, eine Zuflucht vor dem
Ungewitter, ein Schatten vor der Hitze, wenn die Tyrannen
wüten wie ein Ungewitter wider eine Wand." Aus der
Ungeschicklichkeit, aus der mißverständlichen Übertragung
einer hebräischen Eigentümlichkeit ins Deutsche wuchs ein
eigener Zauber. Welcher Reiz, welcher Beziehungsreichtum
in dieser schrossen Zusammenstellung der weitesten Abstrakta
und bestimmtesten Konkreta! Der Faden spinnt sich weiter,
sestigt sich inuner mehr und läßt sich durch die so schmieg-
saine deutsche Sprache bis zur Gegenwart verfolgen.
Keiner hat diesen Sprachgebrauch gewaltiger gehandhabt
als Nietzsche. Mund bin ich worden ganz und gar, sagt
Zarathustra, und Brausen eines Bachs aus hohen Felsen . . .
der Aufbruch bin ich vor allen Thoren . . . bist du eine
neue Kraft und ein neues Recht? Eine erste Bewegung?

Mir fallen drei Ereignisse der Geschichte der Kunst
ein, welche in größerem Maßstabe solche Bedeutung am
regender Mißverständnisse beweisen.

Zu allen Zeiten und bei allen Völkern war die Plastik
polychrom gewesen. Die Alten kannten sie nicht anders,
und die Ostasiaten kennen sie heut noch nicht anders.
Freilich hat sich die Farbe auf den Statuen entwickelt, wie
sich Alles entwickelt. Jm sechsten Jahrhundert in Athen
war sie üppig und reich, an den Pergamenern ist sie nur
noch sehr zart und im kaiserlichen Rom mag sie oft auch
weggelassen worden sein — aber höchstens aus Beguem-
lichkeit, niemals aus ästhetischem Prinzip. Doch, im Ganzen
genonttnen, entbehrte die antike Plastik so wenig der Farbe,
 
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