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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 7.1893-1894

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Heft 16 (2. Maiheft 1894)
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Verding, Götz: Volkstümliche Dramatik
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https://doi.org/10.11588/diglit.11728#0252

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Mich dünkt, in diesen seurigen Worten atmet dcr Geist
der Nation; hier quellen all die Gefühle empor, die den
heutigen Deutschen in seiner Tiefe bewegen; aus dieser
Geschichte, dieser Landschaft, dieser Gegenwart wird eine
Kunst schöpsen, die den Namen deutsch Leansprucht, die der
Größe der Nation und ihrer Thaten würdig sein will.

Aber wo wäre eine moderne Poesie aus diesem Geist
geboren? Der Naturalismus, die Dekadenz - Literatur?
Die trüben, niederdrückenden Werke der Hauptmann, Halbe,
Bahr, Tovote, Sudermann? Oder etwa die der Unter-
haltungsschriftsteller: Ernst von Wolzogen, Heiberg, vvn
Roberts, Telmann, Fulda, Blumenthal, Kadelburg,l'Arronge
und wie sie alle heißen? Wo ist die Poesie, die das Erbe
der Goethe und Schiller, der Kleist und Grabbe, der
Eichendorss und Wilhelm Müller, der Droste, Lenau und
Geibcl anträte und es, dem äußeren Aufschwung der
Nation entsprechend, bereicherte? Wo sind die großen
Dichter der siebziger Jahre? Etwa Fitger und Wilden-
bruch oder Jordan? Es giebt keine. Seit der Mitte
des Jahrhunderts, seit der Spätlingszeit, die auf den
Klassizisnms und die Romantik folgte, giebt es keine zu-
gleich nationale und große Poesie; nur eine Schriftstellerei
von literarischen Schulen, heut einer in Schillerischer und
allenfalls Shakesperischer Manier (z. B. Wildenbruch),
einer in der Zolas, Jbsens odcr Dostosewskys (z. B.
M. G. Conrad, Holz-Schlaf, Bahr, Holländer).

Man wird sagen können: all diese Literatur hat keinen
Zusammenhang mit dem Volksgeiste. Sie ist nicht aus
dem natürlichen Boden erwachsen, sondern in gelehrter
Weise übernommen. —

Wer die sittenschildernde und raisonnirende Roman-
schreibung der neuesten Zeit überschaut und die Unländ-
lichkeit ihrer Erzeugnisse, den Mangel einer großen dich-
terischen Auffassung, eines hohen und reinen Stils, einer
Auswahl und künstlcrischen Anordnuug dcs Behandelten
erwägt, deni könnt es leicht scheinen, als ob die von den
abendländischen Völkern erreichte Stufe der Gesittung den
Gewinn naiver epischer Werke unmöglich mache.
Für eine große Kunst bliebe also wesentlich die Dramatik.

Man hat bei den Griechen, Spaniern und Engländern
beobachtet, daß auf die uationale Heldensage,-auf die
Romanze oder die Volksballade ein nationales Theater
solgte, das sich auf ihrem Boden erhob. Sind für uns
ähnlich günstige Bedingungen vorhanden? — Die Un-
fähigkeit, in der Zeit einer vorgeschrittenen Kultur in ur-
sprünglicher Art episch zu schaffen, würde nicht dagegen
sprechen. Ferner ist die einzige Form, in der für uns
die Dichtung noch eine lebendige und ösfentliche Angelegen-
heit des ganzen Volkes, nicht ein geheimes Vergnügen des
Einzelnen ist (da doch Lied und Epos den Vortrag statt
des stillen Lesens erheischt), die des Bühnenwerkcs. Dazu
kommt schließlich, daß die Deutschen in ihrer neuern Kunst-
lyrik von Goethe bis auf Mörike und andre hinab eine

§ unvergleichliche Nachblüte ihres Volksliedcs besitzen, deren
Aufnahme den Beweis lieserte, daß die Nation im neun-
zehnten Jahrhundert das uralte schlichte Empfinden ihrer
Vorfahren nicht verloren hat. Hier liegt der einfältige,
volksmäßige Ausdruck des Gefühls vor, die ursprüngliche
knappe und derbe Art zu denken und zu sprechen, wie sie
die erste Höhe der nationalen Poesie nm das sechste Jahr-
hundert (Hildebrandslied), sowie die zweite, die des
mittelhochdeutschen Volksepos und des Minnesangs (Walther)
kennzeichnet. Diese Art der Sprache, welche den höchsten
Vertretern germanischer Dramatik, Shakespere und Hol
berg, bei allen sonstigen Stilunterschieden in ihrer Prosa
eigen ist, Lesaß das alte deutsche Fastnachtspiel; im fünf-
zehnten Jahrhundert führten volkstümliche Arbeiten wie
Albrecht von Eybs Verdeutschungen des Plautus, ini sechs-
zehnten Hans Sachsens Versuche eines eigenartigen welt
lich-deutschen Dramas sie fort; sie bildet den Stil der
ersten Goethischen und Schillerischen Erzeugnisse (Goetz,
Räuber, Fiesko), den Stil Heinrichs von Kleist, Grabbes
und der Raimundischen und Otto Ludwigischen Prosa; an
sie muß ein nationales Drania der Deutschen anknüpfen,
wenn es mit der fremden hellenischen Form des späteren
Goethe und Schiller und ihrer Nachfolger Grillparzer,
Halm, Gutzkow, Laube, Lindner, kurz der gesamten Jamben-
dramatik brechen will.

Wo ist nun unsre dramatische Überlieferung? Und
haben wir bereits ein nationales Theater?

Eine dramatische Überliefernng besteht in Deutschland
nicht. Es ist unmöglich, von einem nationalen Stil zu
sprechen, und ebenso wenig kann man's von einem ein-
heitlichen Geist, den die Dramatik der Deutschen atmete:
dergleichen giebt es nicht. Wir besitzen nur seit der zweiten
Hälfte des vorigen Jahrhunderts eine gewisse Anzahl
dramatischer Kunstwerke, die in Geist, Form und Ab-
fassungsart von einander durchaus abweichen, sich völlig
fernstehn. Da ist Lessing, der sich im Soldatenglück
(Minna von Barnhelm) an Holberg anlehnte; da sind
Goethe und Schiller, in der Jugend durch Shakespere, in
reiferem Alter durch Sophokles und Euripides bestimmt;
da ist Heinrich von Kleist, dessen Kätchen mit dem deutschen
Volkstum so innig verslochten ist, Goethen sremd und
poetisch widerwärtig; da ist der genialische Grabbe, völlig
einsam und der Bühne sern; da ist der stark veranlagte
Büchner; da ist endlich der naive Volksdichter Raimund,
unerreicht auf dem ihm eignen Gebiete. Das ist, wenn
wir den weniger selbständigen Otto Ludwig, den krankhaft
grübelnden Buchdramatiker Hebbel, den wienerisch-weich-
lichen Epigonendichter Grillparzer und Gutzkow hinzu- i
nehmen, Alles: und es ist herzlich wenig. Hier sind nicht
cinmal einheitliche Ansänge; wie dürfte man es da wagen, j
das Bestehen eines nationalen Theaters der Deutschen zu j
behaupten?

Und hiermit wird unsre zweite Frage: haben wir

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