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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 7.1893-1894

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Heft 16 (2. Maiheft 1894)
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Verding, Götz: Volkstümliche Dramatik
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https://doi.org/10.11588/diglit.11728#0253

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bereits ein nationaleS Theater, beantwortet: nut einein
schroffen Neiin Es fehlt vielmehr fast Alles; und wir
werden gut thun, unS zu überzeugen, wieviel die »klasfische«
Literatur der Deutfchen als Nati onalpoesie zu wünschen
übrig läßt, welche großen Aufgaben unsrer noch harren.

Betrachten wir daS nationale Theater der alten Jnder,
der Hellenen, Spanier, Engländer und Dänen, fo ge-
wahren wir fofort Eines: es wurzelt im Volkstum, in
dcr Eigenart, im gesellschaftlichen und geistigen Leben der
Nation. Von hier entnahm es Stoff und Form, seine
Farbeu und Empfindungen, feine Haltung und Gangart,
seinen Ausdruck und Stil. So entstand in all diesen
Theatern, das dänische ausgenommen, eine Überlieferung;
ein einheitlicher Geist, von der Nation in die Kunst hin-
überfließend und auf sie zurückwirkend, pslanzte sich durch
Jahrhunderte fort. Das verleiht fedem Theater sein
eigentümlich harmonisches Gepräge. Ein folches haben
die dramatischen Erzeugniffe der Deutschen noch nicht auf-
zuweisen; und ich finde die vorzüglichste Ursache dieser
Erscheinung darin, daß sie, mit wenigen Ausnahmen, nicht
aus dem Volkstum emporgewachsen sind. Die Werke
Lessings und Leisewitzens, die Entwürfe der Stürmer, so
Maler Müllers »Faust«, die ersten Schöpfungen Goethes
und Schillers, waren, wenn auch keine einheitlichen, so
doch Großes verheißende Anfänge; aber was fölgte?
Goethe und Schiller brachen mit ihrem realistischen Kuust-
prinzip, sie nahmen ihre Form von der Antike; sie schufen,
es ist kein Zweifel, ein humanistisches, dem Volksbewußt-
sein fremdes Theater der Bildung; und ihr spätres
Lebenswerk, den frühentworsnen (t77^l) ersten Teil des
»Faust« ausgenommen, gestaltete sich zu einer Nachblüte
der Renaissance. Diese unheilvolle Entwicklung, — denn
sie verlor den heimischen Boden unter den Füßen, —
ward als eine innerlich folgerichtige angesehn; die Geistes-
arbeit der beiden großen Künstler gewann ein unerhörtes
Ansehn; sie lähmte das Abweichen von ihrer als „klassisch"
anerkaunten Richtung, und es erscheint begreiflich, daß
Kleist und Grabbe vereinzelt und unverstauden bleiben
mußten; sie, die gerade die deutsche charakteristische
Behandlungsweise aufs Neue versuchten, welche die Weimarer
Dichter mit der „Jphigenie" und dem „Wallenstein" fallen
gelassen hatten; sie, die die dramatische Arbeit eines Vierteljahr-
hunderts auszustreichen versuchten, und natürlich ohne Erfolg.

Was geschah aber in Deutschland? Man ahmte eiu
Jahrhundert hindurch äußerlich die Schillerische Form und
Diktion nach; und es entstand die berüchtigte Unnatur der
hohlen theatralischen Jambendramatik, als deren letzten be-
deutenden Vertreter wir Ernst von Wildenbruch ansehu.
Zudem blieb der weitaus größte Teil dieser Produktion
papierne Literatur. Zu den Bühnentalenten aus der Schule
der Klassiker mag man Gutzkow, Grillparzer, Lindner,
Fitger rechnen; ursprüngliche Dramatiker hat Deutschland
seit Kleist und Grabbe nicht gesehn.

---

Dcr Einwand liegt nahe, die Schuld am Mangel
cines nationalen Theaters dem Umstande zuzuschieben, daß
die Deutschen überhaupt keine Nation bildeten. Lessing
nannte es t766 einen „gutherzigen Einfall, den Deutschen
ein Nationaltheatcr zu verschafsen, da wir Deutsche noch
keine Nation sind! . . . Wir sind noch immer die ge-
schwornen Nachahmer alles Ausländischen, besonders uoch
immer die unterthänigen Bewundrer der nie genug be-
wunderten Franzosen . . ." — und er könnte zum mindesten
den zweiten Satz noch heut niederschreiben. Jndeß, gab
es früher keine deutsche Nation, so gab es doch ein deutsches
Volkstum; auf ihm uud nur auf ihm konnte sich eine
nationale Bühne, wie im Reformationszeitalter, erheben,
wenn sie nicht von vornherein auf den größten Teil des
Volkes zu wirken verzichtete; daß fie von dieser einmal be-
schrittnen Bahn abwich (denn die „Minna", „Götz", vor
allem aber die prachtvollen „Räuber" mit dem Hinter-
grunde und der Stimmung des Böhmerwaldes siud volks-
tümliche Stücke), ward durch die humanistische Bildung
veranlaßt, insbesondere durch Goethes Ausnahme der Antike.

Man hat bei Goethe den Umschwung seiner ästhetischen
Ansichten genau beobachtet. Jn der Jugend die Vorliebe
für die Niederländer, der Zug zum Derben, Naturkräftigen
und zur kühuen Erfindung (Erwin): ein naturalistischer
Jndividualismus. Durch die italienische Reise (t7 87),
durch den Winkelmannischen Kreis wird ihm die Antike
zur wahren Kunst; eine Umwandlung tritt ein: das Gattungs-
ideal, die reine Form, das Maß siegt über die ursprüng-
liche Schrankenlosigkeit, die charakteristische Fülle, den Stofs.
Die „Jphigeuie" (t7 87) ist das erste Erzeugnis dieser
Spätrenaissance. Nun überlege man: der neunundzwanzig-
jährige Schiller, von der schäumenden Krast der „Räuber",
des „Fiesko", der „Kabale und Liebe", des „Don Carlos"
kommend, lernt t788 den zehn Jahre älteren Goethe
kennen, er wird mit ihm befreundet (t7S^): seine nächste
große Schöpfung ist der „Wallenstein" (t7 9d). Welch
ein Abstand! Welch eine Veränderung der Form und
Behandlungsweise! Nimmt man auch den verderblichen
Einfluß der abstrakten Kantischen Philosophie, welche seit
t787 den reichgestaltenden Künstler zum Sittenprediger
hinabdrückte, der Geschichts- und Altertumsstudien hiuzu,
so liegt doch die äußerliche gcwaltsame und unnatürliche
Annäherung an die Goethische Kunstform der „Jphigenie"
auf der Hand. Von diesem Gesichtspunkt aus, daß die
eigenartige Entwicklung Schillers durch den Einfluß Goethes
uud der Antike zerbrochen ward, ist es vielleicht nicht zu
gewagt, dies stets so hochgepriesene Zusammeuwirken als
kein Glück anzusehn: denn es verhinderte, wie es scheint,
das selbständige Reifen eines volkstümlicheu Dramatikers
ersten Ranges.

So gelangten Goethe und Schiller zu einer Kunstform,
welche ihren ersten Bestrebungen geradezu entgegengesetzt
war, einer Kunst der schönen, der pomphaften, nicht mehr

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