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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 7.1893-1894

DOI Heft:
Heft 24 (2. Septemberheft 1894)
DOI Artikel:
Bie, Oscar: Von der dekorativen Musik
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https://doi.org/10.11588/diglit.11728#0379

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Lweikes Seplember-Dekk 1SS4.

24. Dett.

Lrsckeink

am Anfang und in der Mitte

Derausgeber:

Ferdinand AvennrLus.

Kesreilpreis:
vierteljährlich 31/2 Mark.

7. Zabrg.

Von der dekorattven Musik.

ne früheren Ästhetiker haben gern unterschieden
zwischen den eigentlichen und ven anhängenden
Künsten. Sie nannten „eigentlich" diesenigen,
welche mit hohen, seelischen Wirkungen arbeiten,
und „anhängend" die, welche sich mit den nützlichen Dingen
und den notwendigen Bedürfnissen verbinden müssen oder
zu verbinden pflegen, um in die Erscheinung zu treten.
So war die Plastik eine eigentliche Kunst, die Architektur
nur eine anhängende. Wie willkürlich solche Konstruktionen
sind, sieht heute Jedermann ein. Man kann die Künste
nicht mehr nach dialektischen Gründen trennen und sub-
ordiniren, man muß sie als eine notwendige Kundgebung
einer großen Kunstseele fassen, deren Stufen alle für sich
ihr Recht und ihre Bedentung haben und deren Leben in
der Ergänznng und Beeinflufsung ihrer Teile untereinander
besteht.

Aber man könnte die Künste nach gewissen Wirkungen
anders einteilen. Man könnte jede Kunst in Wirkungen
trennen, die bewußter, und in solche, die unbewußter Natur
sind. Hier gebe ich mich mit aller mir zu Gebote stehen-
den Kraft einem künstlerischen Eindruck hin, dort lasse ich
ihn an mich herankommen. Hier suche ich die Kunst, dort
lasse ich sie spielen. Hier dringe ich mit der gespanntesten
Aufmerksamkeit in ihre Einzelheiten, dort umgebe ich mich mit
ihrer Allgemeinwirkung wie mit einem weichen, schmeicheln-
den Duft, den ich gar nicht analysiren will.

Man kann jene Wirkung die essentielle nennen, diese
die dekorative. Jede Kunst, nicht bloß die ornamentale,
hat solche dekorativen Wirkungen. Wenn ich in einen
gotischen Dom trete, so ist es nur selten der Fall, daß
ich mir die Stimmung dieser schlanken Zartheit und Geistig-

keit architektonisch überlege: was auf mich wirkt, ist ein
unbestimmbares Milieu, welches noch nicht eine Sekunde
braucht, um mich ganz zu beherrschen, und welches in seinem
Stärkegrade von keiner technischen Analyse jemals erreicht
wird. Wenn ich durch einen Garten gehe, der geschmack-
voll mit Statuen besetzt ist, so habe ich an diesen einen
gewissen Genuß, der mit ihrer eigentlich plastischen Be-
trachtung gar nichts zu thun hat — es ist etwas an-
heimelndes, wohliges für mich in dem kaum zu voller
Klarheit dringenden Bewußtsein des Kontrastes, den die
menschliche Figur mit der großen und heiligen Monotonie
der Natur bildet. Wenn ich in einem Speisesaal sitze, der
statt kahler Wände reichliche farbige Friese und Gobelin
vorhänge ausweist, so empfinde ich auch ohne jedes scharfe
Hinsehen auf die Einzelheiten dieser Malereien und Stickereien
eine Wärme, die nur von solcher dekorativer Wirkung der
Kunst herrührt: wenn ich das Zimmer verlasse, weiß ich
vielleicht gar nicht einmal, ob da wirklich Bilder an den
Wänden hingen und was sie darstellten, aber ich fühle
eine nachträgliche Harmonie der Umgebung in mir; gewisse
Farben, die in den Bildern hervorstachen, liegen mir tief
in den Augen; ich habe einen Ton mitgenommen, dessen
Herkunft und Werden mir völlig unbewußt sind.

Die „dekorativen" Wirkungen der Dichtkunst kennt
man ebenso. Jch bin schläfrig und habe wenig Lust,
meinem Freunde zuzuhören, der mir verschiedene Gedichte
junger französischer Poeten vorlesen will. Es strengt an,
diesem prägnanten Wortlaut, dieser gefeilten Sprache zu
solgen. Aber der Vorleser besteht darauf. Und es geht
mir merkwürdig — ich höre kein Wort, ich verstehe keinen
Gedanken, ich weiß kaum, wovon die Rede ist, aber es

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