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Kunstwart und Kulturwart — 27,1.1913

DOI issue:
Heft 1 (1. Oktoberheft 1913)
DOI article:
Grupe, Margot: Verzierungskunst in der Nadelarbeit
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https://doi.org/10.11588/diglit.14287#0046

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Das ist für Laien eine Hauptsache: daß sie ihren Sinn für Einteilung
und Fleckwirkung üben. Denn fließende Linien rhythmisch zusammenzustellen,
gelingt selbst vielen Künstlern nicht. Das Kissen i aus Bild 2 zeigt ein
Ornament. Ist irgend etwas daran dem Auge wohlgefällig? Läßt es den
Zusammenhang vermuten mit einer versteckten Grundform? Denkt man
nicht eher an Steinmeißelung? Kann man überhaupt sagen „dies ist
ein verziertes Kissen" und nicht vielmehr „dies ist ein Kissen und darauf
ist ein Ornament"? Zeigen die Decken von Bild H irgendeine durch-
dachte Einteilung, ja auch nur das Bewußtsein, daß eine Decke andere
Behandlungsweise fordert als ein Kissen? Dennoch ist unsre „stickende
Familie" nicht einmal imstande, auch nur diese Schnörkel selbst aufzu-
zeichnen, in allem ist sie auf die Hilfe des „Geschästs" angewiesen.

Die viel anspruchslosere, aber auch viel vornehmere neue Verzierungs-
kunst kann ganz selbständig dastehen. Geht sie von der Gestaltung des
Ganzen aus, von der Einteilung der Fläche, so ist ihr Hauptsaktor die
Stofs- und Materialwahl in Art und Farbe und die technische Besonder-
heit, mit der sie behandelt wird. Es ist ihr um die charakteristische Gesamt-
erscheinung zu tun. Harmonisch soll sich der Gegenstand dem Auge dar-
stellen, ohne daß sich ein Schnörkel, ein „lyrischer" Gedanke störend da-
zwischen schiebt. Die Abbildungen können nicht veranschaulichen, welcher
Farbenreiz in den Originalen steckt, sie ergänzen sich, klingen zusammen
und lassen das eigentliche Gerinn, die Linie, das Ouadrat, das Rechteck
für das Auge nebensächlich werden. Fünf der kleinen Kissen sind quadratisch
eingeteilt — und ich weiß aus eigener Beobachtung, daß das dem Be-
schauer nicht aussällt, so sehr tritt es zurück vor der Farbengebung und der
verschiedenen lechnischen Arbeit.

Das ist die Phantasie, die diese Verzierungskunst verlangt, sie
bekommt ihre Anregung und ihre Nahrung rein aus dem Stoffe selbst.
So einfach die Dinge aussehen und sind, so sehr bedürfen sie einer bildenden
Gedankenfolge, eines gepflegten Geschmacks und vieler technischer Kennt-
nisse. Die Phantasie muß mit Stoffen und Materialien spielen können,
muß Farbenträume und Variationen ohne Zahl von technischer Gestaltung
sehen können. Gezügelt und beherrscht muß sie aber immer werden vom
Gedanken an die Zweckmäßigkeit und Vernunft aller Dinge. Nnd dann
muß mehr technisches Können, und müssen damit mehr technische Mög-
lichkeiten erworben werden. Die Prachtarbeiten unsrer „stickenden Fa-
milie" sind, bei Licht besehen, kinderleicht, für Nicht-Kinder fast unwürdig
leicht zu arbeiten, und stumpfsinnig immer in ein oder zwei Sticharten. Die
Vielseitigkeit, die Handnähtechniken, die Perl-, Durchbruch- und
Häkelarbeiten bieten könnten, bleibt unerreicht, weil niemand mit den Hand-
habungen viel anzufangen weiß. Die Phantasie könnte aber auch noch
viel Neues finden in Verwendung all der Litzen, Zacken usw. Was eine
Technik nur trocken und ungraziös ausdrückt, macht die andre zu einem
Musterstück von Reiz und Eigenart; was aus dem einen Stosf nüchtern
wirkt, kann von rasfinierter Schönheit auf einem andern sein.

Der große Nmriß also sür eine neue Verzierungskunst in der Nadel-
arbeit, den ich in meinem Buche ausführlicher erklären und ausbauen und
durch Linzelabbildungen klarer machen konnte, als hier, ist im Gegensatz
zu aller Verzierung, die Selbstzweck ist und darstellen, andeuten, erzählen
will: ordne die Verzierung der Gesamterscheinung unter.
Laß Form, Stosf, Farbe und Einteilung schon den Hauptzug, die Grund-

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