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Kunstwart und Kulturwart — 27,1.1913

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Heft 6 (2. Dezemberheft 1913)
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Lose Blätter
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https://doi.org/10.11588/diglit.14287#0606

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Lose Blätter

Von den Armen und uns

s^Was wir den Lesern mit dem folgenden zum Weihnachtsfeste unter-
breiten, das bitten wir sie, als ein Zeugnis der religiösen Kräfte hin--
nehmen zu wollen, die in der Gegenwart wirkenZ

Jm Voraus

^m^em Wunsche des Herausgebers entsprechend, will ich kurz darlegen,
^-^^wie ich zu den Anschauungen vom Wesen des Proletariers gelangte,
von denen ich im nachsolgenden einiges mitteile. Soweit ich mich
selber verstehe, entstammt mein Interesse für den Proletarier weniger sozialem
Mitleid, als vielmehr einem angeborenen kritischen Verhalten gegen-
über Lob und Tadel, die mir und anderen wurden: so erschien mir das,
was man in den Kreisen, denen ich selber durch Abstammung und Bildung
angehöre, gewöhnlich als Verdienst wertet, meist nur als Folge glück-
licher Amstände. Da ich aber nicht davon lassen wollte, an menschliche
Verdienste zu glauben, so begann ich zu suchen nach dem Menschen, der ganz
nur aus sich selber steht, der ausschließlich gewertet wird nach dem Nutzen,
den er dem bringt, der ihn wertet. Diesen voraussetzungslosen Menschen,
diesen Menschen an sich, fand ich im Proletarier. Ihn suchte ich zu er-
gründen. Mein Schicksal kam diesem Bestreben entgegen: Es führte mich
aus lange Iahre in das Land der sozialen Offenheit, nach Rußland, wo
der Arme sich noch immer so gibt, wie er ist, wo er nicht gezwungen wird,
sich zu verstecken oder zu verstellen wie bei uns. Dabei war ich beruflich
und persönlich in täglichem Verkehr mit Fabrikarbeitern und Handwrrkern
— und begriff sehr bald, was Goethe sagen will, wenn er von jenen
Leuten spricht, „die wir die kleinen nennen, die aber vor Gott vielleicht
die größten sind". Meine soziale Lehrzeit aus russischem Boden dauerte
siebzehn Iahre, ohne zu einem bestimmten Abschluß zu gelangen. Seit
nunmehr drei Iahren nach Deutschland zurückgekehrt, gab ich mich den
gleichen Interessen hin mit jenem erweiterten Blick für das Elementar-
menschliche, der jedem einigermaßen zum Sehen Begabten immer noch
in Rußland wird. Zum sozialen Erlebnis wurden mir dabei einige Selbst-
biographien moderner Proletarier, die bei Diederichs-Iena, Reinhardt-
München und Frowein-Berlin erschienen sind. Hatte ich von jeher im
Emanzipationskampf des Proletariats ein Ringen um Anteilnahme am
Kulturschafsen im weitesten Sinne anerkannt, so ward es mir nunmehr
zur Gewißheit, daß der denkende Proletarier bereits heute vielfach an die
Grenzen unserer Erkenntnis pocht, und daß er auch da, wo er lediglich
unter seiner wirtschaftlichen Beschränktheit zu leiden glaubt, tatsächlich
meist vor allem unter den Schranken leidet, die dem Menschen heute noch
oder für immer gesetzt sind. Daß letzteres nur selten begriffen wird, liegt
meines Erachtens an den übertriebenen Vorstellungen, die man in prole-
tarischen Kreisen noch immer hegt von dem, was die Wissenschaft
überhaupt zu geben vermag. Mit dieser Lrkenntnis war endlich
der lange vergeblich von mir gesuchte Zusammenhang in alle meine bis-
herigen Erfahrungen vom Wesen des Proletariers gekommen. Ich glaubte
sie nicht länger für mich behalten zu dürfen. Mag auch manches in
ihnen auf Irrtum beruhen, immerhin gaben mir Neigung und Schicksal

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