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Kunstwart und Kulturwart — 27,1.1913

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Heft 4 (2. Novemberheft 1913)
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Schmidt, Leopold: Das Totenfest in der Musik
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Servaes, Franz: Wiener Kunst: ein Brief an den Herausgeber
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https://doi.org/10.11588/diglit.14287#0339

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Brahms, der, als er sie schrieb, bereits gezeichnet war, in grimmig-über-
mütiger Selbstironie, und war sich wohl bewußt, damit an stille, trauernde
Seelen zu rühren. Nicht nur in ihrer musikalischen Form und tief emp-
sundenen Ausdrucksweise sind diese Gesänge bedeutend und eigenartig;
sie gehören zu den ganz seltenen Denkmälern religiöser Lyrik, die die
Neuzeit hervorgebracht hat, und sind etwa den Solokantaten Bachs ver-
gleichbar. Wie der Karfreitagszauber aus dem „Parsifal" am getreuesten
unsrer heutigen Auffassung von der Passion Christi entspricht, so darf
man die Ernsten Gesänge als den zeitgemäßesten Ausdruck unsrer Gedanken
über Tod und Leben bezeichnen. Nicht zufällig auch hat wohl der Sänger
des Liedes „Von ewiger Liebe" sein Schafsen mit dem Bekenntnis ge-
schlossen, daß unter den drei christlichen Tugenden, Glaube, Liebe und
hoffnung, die Liebe am höchsten steht.

Rnd nun ist ein Meister gekommen, der innerlich, in dem unerschütter-
lichen Ernst seines Künstlertums wie in der Art seines musikalischen
Schaffens sich Bach und Brahms verwandt fühlt: Max Reger, und hat diese
Ernsten Gesänge für Klavier allein gesetzt. Damit ist auch dem Laien, der
sich nicht unmittelbar mit Gesangsmusik beschäftigen kann, die Möglich-
keit gegeben, sich diese religiös-lyrischen Ergüsse vorzuführen und sich
mit ihrem tondichterischen Gehalt vertraut zu machen. Mit feiner und
kundiger Hand hat der Brahmskenner Reger die (bei N. Simrock in
Berlin erschienenen) Äbertragungen hergestellt und Charakter und Wirkung
des Originals zu wahren gewußt. Wir lassen hier in unserer Notenbeilage
als Beispiel den dritten, vielleicht schönsten und ergreifendsten der vier
Gesänge „O Tod, wie bitter bist du" in der Regerschen Bearbeitung folgen.

Er mag in diesen Tagen der Linkehr willkommen sein. Nm die Zeit
des Totenfestes tritt ja die Musik wieder in innigere Beziehungen zum
Leben und erfüllt sozusagen eine natürlichere Bestimmung, als ihr in
dem geschäftigen Konzerttreiben des Alltags zugemutet wird. In den
Aufführungen bedeutungsvoller Werke findet die Stimmung, die draußen,
wo meist schon der Schnee die Gräber deckt, von trauernden Herzen Besitz
ergriffen hat, ihren versöhnenden Ausklang. Leopold Schmidt

Wiener Kunst

Ein Brief an den Herausgeber

ie haben mich freundlichst eingeladen, Ihnen über die gegenwärtige

Lage der bildenden Künste in Wien etwas Zusammensassendes zu sagen.

Ich habe längere Zeit gezögert. Denn wo alles auseinanderstrebt,
da ist es schwer, etwas zusammenzufassen. Dieses gegenwärtige künst-
lerische Wien, es hat etwas Ungreifbares. Denn es hat weder einen
Mittelpunkt noch irgendwie feste Amrisse.

Allerdings hat es recht viel Talent. So viel Talent, daß es gar nicht
damit fertig zu werden vermag. Daß es unaufhörlich nach außen abgibt.
Daß es Dutzende von Kräften brachliegen läßt. Freilich ist das Talent meist
von jener etwas fatalen Art, die nicht gerne kämpft, um sich redlich durch-
zusetzen. Eher drückt sie sich grollend beiseite, steht im Schmollwinkel
und „raunzt". Darum gibt es hier, von Klimt angefangen bis in die
Schülerklassen der Akademie, so sehr viele Alleinstehende und darum „Ver-
kannte". Weit häufiger freilich ist jene andere Sorte von Talent, die
schon darum an Kämpfen nicht denken mag, weil sie sich lieber willig

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