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Kunstwart und Kulturwart — 27,1.1913

DOI Heft:
Heft 3 (1. Novemberheft 1913)
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Heinz, Wilhelm: Betrachtungen eines Schlaflosen
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https://doi.org/10.11588/diglit.14287#0234

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Iahrg. 27 Erstes Novemberheft 1913 Heft 3

Betrachtungen eines Schlaflosen,

veranlaßt dnrch ein Etabliffement, das unter seinen Fenstern
Tag und Nacht mit summendens Maschinen bei grellen
Lichtern nervenstärkende Medikamente fabriziert.

lle lebendige Kraft bleibt unzulänglich, unerschöpf--
3 lich ist allein die tote Energie. Man bedenke: Fünfzig bis
^^sechzig Iahr braucht die Natur, um einen Balken mittlerer Stärke zu
liefern; wir gießen ihn aus Eisen in wenigen Stunden beliebig lang
und dick, beliebig gestreckt und gebogen, — wir brauchen nicht mehr auf
das träge Wachstum des Holzes zu warten. Und wie primitiv find gar
die Kraftformen des Lebens: Zwei bis drei Iahr dauert's, bis eine
hinfällige, dimenfional-ungeschickte, unteilbare Pferdekrast gebrauchsfähig
wird. Wieviel L. 8., beliebig vermehrbar und teilbar, vermögen hin-
gegen wir im zehnten Teil der Zeit auf dem zehnten Teil des Raums
herzustellen!

And das Wichtigfte: All die unermeßliche Energie, die wir durch die
Zauberformeln der Wissenschaft dem toten Gestein und den versunkenen
Wäldern entlocken, — all diese Gewalten einer unberechenbaren Ver-
gangenheit, hineingeworfen in die wirbelnde Gegenwart, sie find durch-
aus nervenlos, launenlos, willenlos, seelenlos, sie brauchen keine Nuhe
und keinen Schlaf, sie haben keine Gedanken, Gefühle und Ahnungen,
sie verlangen weder Geduld noch Liebe!

T

Alle lebendige Kraft ist launisch, vollkommen gehor-
sam ist allein die tote Energie. Man bedenke: welche Verschie-
bung des Werturteils mußte diefe eine Tatsache im Denken und Fühlen
unserer Zeit hervorrnfen! Daß gerade die größte Energie weder Achtung
noch Geduld noch Liebe verlangt, daß andererseits die schwächste aller
lebendigen Nutzkräfte, die seelisch-irritierte menschliche „Arbeitskraft",
eben in dieser Hinsicht Anforderungen stellt, die ihrer motorifchen Er-
giebigkeit durchaus nicht entsprechen!

Indes, das Bereich der Kräfte und Stoffe, die leben und wachsen
müssen und deren Herstellung infolgedessen unverhältnismäßig viel Raum
und Zeit fordert und obendrein Geduld, Achtung nnd Liebe — das Bereich
dieser lebendigen Kräfte läßt sich noch ganz erheblich zugunsten einer
amoralischen Regelung des Daseins einschränken. Die Botanik kann mit
der Zeit durch Surrogate, die Zoologie im biblischen Nmfang durch launen-
lose Kraftmaschinen überslüssig werden. Aber der Mensch! Lr bleibt
unabschaffbar, solange die Maschinen nicht denken können. Gelänge es
nun wenigstens, ihn zur denkenden Maschine zu reduzieren und damit
den technischen Prozeß von der peinlichen Trübung des Seelischen zu
reinigen, von den ärgerlichen Störungen, die er durch das Nnmeßbare
und Unfaßbare, das Gefühlbehaftete und Schlafbedürftige ständig erleidet.

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